Der Ruf der Kiwis
auf größeres Interesse jener Jungen bauten, die ihr Rennen bereits hinter sich hatten. Die mochten dann zwar etwas abgekämpft sein, hatten aber wenigstens Zeit, sich den jungen Damen zu widmen. Ein paar andere hatten damit argumentiert, dass die Ruderer sicher vor dem Start nach einer Glücksfee Ausschau hielten. Sie waren schließlich mit der Aussicht ruhig gestellt worden, man könne ja vor den Rennen und dem Picknick einen unverfänglichen Spaziergang zum Ausgangspunkt des Rennens einlegen.
Lilian und ein paar andere brachen auch gleich auf, während Gloria den Lehrerinnen half, die Picknickkörbe auszuladen und Decken und Tischtücher auf dem Rasen zu verteilen. Bestimmt konnte sie sich anschließend unauffällig davonschleichen. Am Cam waren an diesem Tag zwar sicher sämtliche Vögel ausgeflogen, aber in der Nähe lag ein Wäldchen. Vielleicht begegnete ihr dort ja ein Eichhörnchen oder ein Marder. Beide Tierarten gab es in Neuseeland nicht, und Gloria war hingerissen, wenn es ihr gelang, eins der für sie exotischen Geschöpfe zu beobachten.
Lilian Lambert dagegen fand ihre eigene Gattung immer noch interessanter als alle anderen Wesen, gleich auf welchem Kontinent. Auch sie mochte Tiere und hätte naturwissenschaftliche Studien interessanter gefunden als den Lehrstoff von Oaks Garden. Aber wenn es um die Frage »Jungs oder Eichhörnchen« ging, waren Lilys Prioritäten klar gesetzt. Und auf dem Anlegesteg vor den Bootsliegeplätzen von Cambridge wimmelte es von passenden Jungs. Alle trugen die typischen College-Pullover oder Hemden, alle waren muskulös vom täglichen Rudertraining. Genau wie die anderen Mädchen lugte Lilian geziert unter ihrem Sonnenschirm hervor, wagte mitunter ein schüchternes Lächeln, wenn ihr Blick sich für Sekundenbruchteile mit dem eines der Jungen kreuzte und plauderte ansonsten so unbefangen mit ihren Freundinnen, als habe sie überhaupt kein Interesse am anderen Geschlecht. Dabei hatte sie ihrer Erscheinung an diesem Tag stundenlange Aufmerksamkeit geschenkt. Lilian trug ein mattgrünes Kleid, an Ausschnitt und Saum verziert mit brauner Spitze. Ihr rotes Haar trug sie offen, darüber allerdings einen breiten Sonnenhut, ebenfalls lindgrün. Den Sonnenschirm hätte sie deshalb gar nicht gebraucht. Es war gerade erst Mitte März, und auch wenn das Wetter es außergewöhnlich gut mit den jungen Leuten meinte, wäre eine Jacke eher angebracht gewesen als Sonnenschutz. Aber der Schirm bot sich einfach an, um damit neckisch zu tändeln, und was die Jacke anging: Lieber fror Lilian ein wenig, als ihr hübsches Dekolleté zu verdecken.
Die Jungen musterten die Mädchen ihrerseits, wussten sie doch, dass am Ende des Rennens ein Picknick auf sie wartete, das die Mädchen bereit waren, mit ihnen zu teilen. Eine gewisse Vorauswahl konnte man da jetzt schon treffen. Für die meisten Jungs war dies nicht die erste Regatta, und sie wussten sehr wohl, dass sich am Start nur die keckeren der Mädchen einfanden. Die schüchternen warteten später am Fluss. Hier dagegen war durchaus schon ein kleines Gespräch oder sogar ein Flirt möglich – wenn man es geschickt anfing. Die wenigen Jungen, die Schwestern oder Cousinen unter den Internatsschülerinnen hatten, waren natürlich im Vorteil. Eine Freundin von Lilian entdeckte ihren Bruder – und wurde gleich mehreren jungen College-Studenten vorgestellt. Sie ihrerseits schob Lily und die anderen Mädchen in den Kreis, und schon war das Eis gebrochen. Zu einem lebhaften Geplänkel, zu dem die schlagfertige Lily etwas hätte beitragen können, kam es dabei jedoch noch nicht. Schließlich waren nicht nur die Mädchen, sondern auch die Jungen befangen, und so sprachen die einen über das Wetter – »wunderschön, ein echter Glücksfall!« – und die anderen über die Zusammenstellung der Mannschaft. Die Nominierung von einem oder zwei Jungen war wohl noch strittig, und die Ruderer diskutierten sie lautstark.
»Ich bitte dich, Ben, dieses Küken! Natürlich überzeugt er, aber der hat doch noch drei Jahre Zeit, um seinen Ruhm zu ernten. Dieses Jahr muss Rupert noch mal ran. Für den ist es die letzte Chance, und für mich ist er auch besser ...«
»Ben trainiert härter ...«
»Ben ist ein Streber!«
Lilian hörte gelangweilt zu und fragte sich, wer wohl die Jungen waren, über die man sich hier so leidenschaftlich stritt. Ben hörte sich interessant an. Er schien einer der Jüngsten zu sein und würde damit gut zu Lilian passen. All die
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