Der Ruf der Kiwis
sie –, aber sie hätte nicht gewusst, was sie mit ihm reden sollte.
»Wie ist es denn auf dem College?«, fragte dagegen Lilian, obendrein mit vollem Mund. »Ist es wirklich so schwierig? Alle sagen, man müsste wer weiß wie intelligent sein, um nach Cambridge zu kommen ...«
Ben verdrehte die Augen. »Manchmal ist es bloß eine Frage der richtigen Familie«, erklärte er dann. »Wenn der Vater und der Großvater in Cambridge waren, ist alles schon einfacher.«
»Und?«, fragte Lilian. »Waren sie? Ihr Daddy und Ihr Grandad? Was studieren Sie überhaupt?«
»Sie sehen überhaupt nicht wie ein Student aus!«, mischte Lilians Freundin Hazel sich ein. Sie hatte bislang keinen Jungen zum Platznehmen auf ihrer Decke bewegen können und wollte nun wohl an Lilians Eroberung teilhaben. Sehr geschickt stellte sie es nicht an. Ben wurde umgehend rot.
»Ich hab ein paar Schuljahre übersprungen«, gab er zu und schenkte Lilian ein etwas schiefes Lächeln. »Ein Streber, wie gesagt ... Und dann hat Cambridge mir ein Stipendium angeboten. Literatur, Sprachen und Englische Geschichte. Meine Eltern sind nicht so begeistert.«
»Das ist aber dumm von Ihren Eltern!«, erklärte Lilian geradeheraus, was Ben offensichtlich aus dem Herzen sprach, Miss Beaver allerdings zu einer strengen Rüge veranlasste.
Ben, der sich unversehens im Mittelpunkt der gesamten weiblichen Aufmerksamkeit fand, räusperte sich.
»Ich ... äh ... müsste dann mal wieder ... Ich meine, ich muss zu meinen Freunden. Aber vielleicht ... hätten Sie nicht Lust, Miss Lilian, mich ein paar Schritte zu begleiten? Nur bis zu den Docks natürlich ...«
Lily strahlte. »Sehr gern!«, erklärte sie, wollte aufstehen, überlegte es sich aber im letzten Moment anders. Mit sanftem Gesichtsausdruck hielt sie Ben die Hand entgegen, damit er ihr aufhalf. Anmutig glitt sie von ihrer Decke.
»Ich bin gleich wieder da«, beschied sie Miss Beaver, Hazel und der gänzlich desinteressierten Gloria, schulterte ihren spitzenbesetzten Sonnenschirm und tänzelte neben Ben von dannen.
Ben atmete auf. Aber was tat er jetzt mit dem Mädchen? Er konnte sie unmöglich zu den lauten, aufdringlichen Jungen mitbringen, deren Achter er gerade zum Sieg geführt hatte. Womöglich machte sie ihm noch einer von ihnen abspenstig.
Zum Glück steuerte Lilian gleich auf das Wäldchen zu, sobald sie aus der Sicht ihrer Lehrerinnen war.
»Kommen Sie hierher, hier ist es schattig. So ein warmer Tag heute, nicht wahr?«
Letzteres stimmte zwar nur bedingt – für März war das Wetter schön, aber insgesamt suchte man doch eher die Wärme der schwachen Frühlingssonne als kühlenden Schatten –, doch Ben nickte eifrig. Gleich darauf wanderten sie einen Waldpfad entlang und fühlten sich beide so frei wie seit langem nicht mehr. Ben hatte gar nicht das Gefühl, unbedingt reden zu müssen. Er fühlte sich ausgesprochen gut mit diesem hübschen, lächelnden Mädchen neben sich. Lilys Mundwerk abzustellen war allerdings unmöglich. Mit ihrer klingenden, hellen Stimme erzählte sie von Oaks Garden und dass sie auch eine der jüngsten Schülerinnen gewesen war, als sie dorthin kam.
»Ich wurde zusammen mit meiner Cousine Gloria ins Internat geschickt. Deren Eltern wollten das unbedingt, aber sie ist schüchtern, und wir wohnen sehr weit weg. Deshalb wurde ich mitgeschickt, damit sie sich nicht ganz allein fühlt. Tut sie aber doch. Manche Leute fühlen sich immer allein ...«
Ben nickte voll tiefstem Verständnis. Lilian schien instinktiv zu erfassen, wie er sich fühlte. Allein. Schon mit seinen Schulkameraden hatte er nicht viel anfangen können, und mit den viel älteren Jungen im College erst recht nicht. Bens Glück war, dass ihm der Lehrstoff leichtfiel und Freude machte. Auch wenn ihn weder Geologie faszinierte, wie seinen Vater, noch Wirtschaftslehre, was seine Mutter favorisierte. Ben sah sich mehr als Dichter. Und ertappte sich dabei, dass er dies erstmalig jemandem erzählte. Lilian lauschte hingerissen.
»Wissen Sie ein Gedicht auswendig?«, fragte sie neugierig. »Bitte sagen Sie eins auf!«
Ben errötete. »Ich weiß nicht, ich habe noch nie ... nein, das schaffe ich nicht. Mir würden die Worte wegbleiben ...«
Lilian runzelte gespielt strafend die Stirn. »Ach was! Wenn Sie wirklich Dichter werden wollen, müssen Sie später Lesungen machen. Da kann Ihnen auch nicht die Spucke wegbleiben. Los!«
Ben schoss das Blut noch intensiver in den Kopf, während er, den Blick
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