Der Ruf der Kiwis
Tanzlehrer und Impresarios, die Neulinge für die Show einstellten und anlernten. Kura und William reisten mit einem gewaltigen Tross, der fünf Schlaf- und Salonwagen füllte. Die Privatwaggons wurden Linienzügen zu den jeweiligen Zielen in ganz Europa angehängt.
Wenn Gloria mit der Show reiste, musste sie mit fünf anderen Mädchen den Waggon teilen, also auf noch engerem Raum zusammenleben als im Internat. Manchmal hatte sie Glück, und die jungen Tänzerinnen waren nur mit sich selbst beschäftigt. Aber mitunter gab es auch unter ihnen quälsüchtige Charaktere, die Gloria die reichen und berühmten Eltern neideten und sie das spüren ließen. Gloria verzog sich dann auch während der Tourneen hinter ihren Schutzwall aus Gedanken und starrte stundenlang still vor sich hin. Während man das im Internat als »verträumt« interpretierte, musste sie auf den Tourneen hören, dass man sie für blöd hielt.
»He, Glory, wach auf! Bist du denn immer noch nicht fertig?« Lilian Lambert stürzte ins Zimmer – wie immer ohne anzuklopfen – und riss Gloria aus ihren trüben Gedanken.
»Und wie hast du dich wieder angezogen?«, fragte sie ungeduldig. »Du brauchst keine Schuluniform anzuziehen, dies ist ein Picknick! Wir sehen uns das Training für das Bootsrennen an und feiern dann die Jungs, die es in den Cambridge-Achter schaffen. Das ist Spaß, Gloria! Und wir lernen Jungen kennen! Einmal im Jahr kommen wir raus aus diesem Nonnenkloster, und was machst du ...«
»Mich guckt doch sowieso keiner an«, meinte Gloria mürrisch. »Am liebsten würde ich hierbleiben. Oder diese Boote selbst rudern. Das muss Spaß machen!«
Lilian verdrehte die Augen. »Los, zieh jetzt das blaue Kleid an, das deine Mutter dir in Antwerpen gekauft hat. Das ist hübsch und steht dir gut, weil es schön weit ist.«
Gloria seufzte und warf einen Blick auf Lilians Wespentaille. Sie trug zweifellos ein modisches Korsett, hätte das aber gar nicht gebraucht. Schon jetzt war abzusehen, dass die Fünfzehnjährige figurmäßig ihrer Mutter und Großmutter nachkam: klein, schlank, aber doch mit Rundungen an den richtigen Stellen. Gloria selbst dagegen musste sich in ihr Korsett zwängen und sich ernstlich kasteien, wenn sie ihre Maße den modischen Kleidern anzupassen versuchte. Das weite Reformkleid aus Antwerpen stand ihr tatsächlich viel besser, aber es war nicht der letzte Schrei, sondern galt eher als Attribut von Blaustrümpfen und Frauenrechtlerinnen. Das galt erst recht für die Hosenanzüge, die man neuerdings in Großstädten sah. Gloria hätten sie überaus gereizt, aber Kura hatte hier nur den Kopf geschüttelt. Und sie mochte auch gar nicht daran denken, was sie im Internat zu hören bekommen hätte.
Schließlich war Gloria zu Lilians Zufriedenheit hergerichtet. Die Jüngere hatte ihr auch noch die Augenbrauen gezupft und mit einem vorher abgebrannten Streichholz, das sie dann mit Ruß aus dem Kamin schwärzte, ein wenig nachgezogen.
»So sieht es viel besser aus!«, erklärte sie vergnügt. »Und rund um die Augen musst du auch noch einen ganz dünnen Strich ziehen. Etwas dicker wäre besser bei dir, aber dann merkt es Miss Arrowstone und kriegt Anfälle!«
Tatsächlich ließ die improvisierte Schminke Glorias Augen etwas größer wirken. Die Farbe betonte ihre klare Haut, und die weniger buschigen Brauen ließen die Augen besser zur Geltung kommen. Sie war weit davon entfernt, schön zu sein, aber sie fand sich doch nicht mehr abstoßend. Wahrscheinlich würde sich kein Junge für sie interessieren, doch darauf kam es Gloria nicht an. Sie wollte vor allem nicht auffallen, weder positiv noch negativ.
2
»Komm jetzt, der Wagen fährt gleich ab!«, drängte Lilian. Das rothaarige Mädchen war Gloria nach wie vor eine gute Freundin. Gloria fragte sich oft, was diesen Wirbelwind dazu brachte, ihr die Treue zu halten. Nachdem beide Mädchen endlich in der Oberstufe waren, machte der Altersunterschied auch nicht mehr so viel aus. Für Gloria hatte die Aufnahme in Lilians Stufe jedoch eine weitere Demütigung bedeutet. Im zweiten Jahr in Oaks Garden hatte man sie zurückgestuft. Ohne Miss Bleachums Nachhilfeunterricht holte sie in den schöngeistigen Fächern einfach nicht auf. Lilian hatte hier keine Probleme und schalt Gloria immer wieder für deren Unsicherheit.
»Es ist ganz egal, Glory, ob du verstehst, was Mr. Poe oder sonst ein Dichter mit seinem Geschreibsel sagen wollte. Die wussten das wahrscheinlich selbst nicht.
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