Der Ruf der Kiwis
hatte mit Florence Nightingale zu tun, Kipling schrieb etwas darüber; ansonsten war es wohl eine heroische Angelegenheit mit Pferden und Ritterrüstungen.
»Mit wem?«, fragte sie verwundert.
Ben zuckte die Schultern. »Hab ich auch nicht ganz verstanden. Sicher ist Mr. Hallows sich natürlich nicht. Aber es könnte sein. Und im Krieg wird nicht gerudert.«
»Das wäre jetzt wirklich schade«, meinte Lilian. »Können Sie denn wenigstens heute gewinnen?«
Ben nickte, und seine Augen blitzten. »Heute fährt mein Achter gegen seinen.«
Lilian lächelte. »Dann wünsche ich viel Glück. Ich bin übrigens Lily. Von Oaks Garden. Und wir machen am Ziel ein Picknick. Wenn Sie Lust haben, können Sie kommen. Auch wenn Sie nicht gewinnen.«
»Ich gewinne«, sagte Ben. Mit verbissenem Gesicht widmete er sich wieder seinen Aufwärmübungen.
Lily blieb noch ein paar Minuten, hatte dann aber das Gefühl, zu stören.
»Bis dann also!«, sagte sie.
Ben hörte sie gar nicht.
Lilian verfolgte das Rennen auf einer Decke mit Gloria. Letzterer war die Flucht aus dem Einflussbereich der Lehrerinnen nicht gelungen. Miss Beaver versuchte wieder mal, sie in ein Gespräch über die Maori-Kultur und vor allem Musik zu verwickeln, wovon Gloria nicht das Geringste wusste, und Miss Barnum brauchte Hilfe beim Öffnen eines Picknickkorbes, dessen Verschluss sich offenbar verzogen hatte. Gloria nestelte ihn geschickt wieder auf. Technische Probleme durchschaute sie schnell und erntete dafür ausnahmsweise ein Lob. Ihre naturkundliche Wanderung konnte sie allerdings vergessen. Lilian und die anderen Mädchen waren inzwischen wieder aufgetaucht, schwatzten unausgesetzt von Jungen und stritten sich um die besten Plätze, um das Rennen zu beobachten.
Auch Lilian hatte etwas zu erzählen. Ihr neuer Freund Ben befehligte wohl einen der Achter, und Lilian redete bereits von der Steuerung von Ruderbooten, als hätte sie die letzten drei Jahre auf See verbracht.
Schließlich wurde das Rennen gestartet, und die Mädchen jubelten ihren jeweiligen Favoriten zu. Gloria war der Ausgang eigentlich egal, aber sie bemerkte schnell, dass in Bens Achter offensichtlich größere Disziplin herrschte als bei seinem Konkurrenten. Die Ruder schlugen gleichmäßiger und schneller aufs Wasser, das Boot glitt dahin wie ein Delfin in den Wellen. Dazu schien der Schlagmann eine strategische Begabung zu sein. Er hielt seinen Achter zunächst gleichauf mit seinem Konkurrenten und zog erst im letzten Drittel des Rennens vorbei, dann aber schwungvoll. Bens Boot siegte mit einer guten Länge Vo r s p ru ng.
Lilian hüpfte vor Begeisterung.
»Er hat gewonnen! Jetzt müssen sie ihn auch in London starten lassen. Sie müssen! Sonst ist es nicht gerecht!«
Gloria fragte sich, wie Lilian nach fünf Jahren in Oaks Garden noch an Gerechtigkeit glauben konnte. Selbst beliebten Mädchen wie Lily gaben die dort vergebenen Noten und schriftlichen Beurteilungen noch Rätsel auf. Mit den Jahren hatte sich die »künstlerisch-kreative« Orientierung der Schule noch verstärkt; viele Lehrerinnen waren schrullig und beurteilten nach undefinierbaren Gesichtspunkten.
Der geniale Schlagmann Ben jedenfalls hatte an diesem Tag kein Glück. Er wirkte geknickt, als er zu den Mädchen schlenderte.
Lilian strahlte ihn an. Eigentlich hätte sie gedacht, sie würde ihn holen müssen. So einen gewaltigen Eindruck schien sie schließlich nicht auf ihn gemacht zu haben; er hatte sich doch mehr auf sein Rennen konzentriert als auf die Unterhaltung mit ihr. Aber irgendetwas an dem rothaarigen Kobold musste ihn doch fasziniert haben – oder er brauchte jetzt einfach eine Schulter zum Ausweinen.
»Ich hab’s Ihnen gesagt, sie werden Rupert nominieren«, erklärte er, und Lilian meinte fast, etwas wie Tränen in seinen ausdrucksvollen Augen zu sehen. »Egal ob ich gewinne. Und genau so ist es ...«
Lilian sah ihn mitleidig an. »Aber das Rennen war großartig. Und wenn Cambridge jetzt in London verliert, werden alle wissen, woran es lag!«, tröstete sie ihn. »Kommen Sie, essen Sie etwas. Diese Hähnchenschenkel sind sehr gut, und Sie dürfen sie in die Hand nehmen! Und dies hier ist Stachelbeerwein aus dem Küchengarten. Na ja, kein Wein, mehr Saft. Aber er schmeckt!«
Lilian bediente den Jungen ganz selbstverständlich und lachte dabei. Gloria fragte sich, wie sie so unbeschwert mit ihm plaudern konnte. Ben jagte ihr zwar nicht sonderlich viel Angst ein – er musste jünger sein als
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