Der Ruf der Kiwis
die Achseln. »Das könnte leider sein«, sagte er.
Jacks Nerven waren zum Zerreißen gespannt. »Vielleicht spannen Sie uns dann nicht weiter auf die Folter, sondern sagen uns, was es sein könnte.«
Charlotte, blass und zart in ihrem schlichten, dunkelblauen Kleid, machte den Eindruck, als wollte sie es gar nicht wissen. Doch Jack war ein Mensch, der Gefahren gern ins Auge sah.
»Wie gesagt, ich kann mich da nicht festlegen«, meinte Barrington. »Aber ein paar Symptome ... nur ein paar, Mrs. McKenzie, ich bin mir keineswegs sicher ... könnten auf einen Gehirntumor hindeuten ...« Der Arzt sah so unglücklich aus, wie Jack sich fühlte.
»Und das hieße?«, fragte Jack weiter.
»Auch das kann ich nicht sicher sagen, Mr. McKenzie. Es hängt davon ab, wo der Tumor zu lokalisieren ist ... ob das überhaupt möglich ist ... und davon, wie schnell er wächst. Das alles müsste eruiert werden. Und das kann ich nicht.«
Der Mann war wenigstens ehrlich. Charlotte schob ihre Hand in die ihres Mannes.
»Heißt das ... ich muss sterben?«, fragte sie heiser.
Dr. Barrington schüttelte den Kopf. »Vorerst heißt das alles noch gar nichts. Wenn Sie mich fragen, so sollten Sie möglichst schnell Dr. Friedman in Auckland aufsuchen. Dr. Friedman ist Hirnspezialist, er hat bei Professor von Bergmann in Berlin studiert. Wenn es in diesem Teil der Welt einen Gehirnspezialisten und Hirnchirurgen gibt, dann ist er es.«
»Das heißt, er würde die Geschwulst ... aus mir herausschneiden?«, fragte Charlotte.
»Wenn das möglich ist«, meinte Barrington. »Aber darüber sollten Sie vorerst gar nicht nachdenken. Machen Sie die Reise nach Auckland und konsultieren Sie Dr. Friedman. Aber lassen Sie es ruhig angehen. Gestalten Sie es als eine Art Urlaubsreise. Schauen Sie sich die Nordinsel an ... sie ist wunderschön. Und versuchen Sie, meine Befürchtungen erst einmal zu vergessen. Vielleicht sind Sie in vier Wochen wieder da, und Ihre Frau ist schwanger! Sowohl bei Unfruchtbarkeit als auch bei Migräne empfehle ich eine Luftveränderung ...«
Charlotte hielt Jacks Hand fest umklammert, als sie zurück auf die Straße traten.
»Willst du jetzt noch zu der Schneiderin?«, fragte er leise.
Charlotte wollte tapfer nicken, aber dann sah sie sein Gesicht und schüttelte den Kopf. »Und du? Willst du Whiskey kaufen?«
Jack zog sie dichter an sich heran. »Ich werde Fahrkarten nach Blenheim kaufen. Und dann für die Fähre zur Nordinsel. Für unsere ... Urlaubsreise.« Seine Stimme klang heiser.
Charlotte schmiegte sich an ihn. »Ich wollte immer nach Waitangi«, sagte sie leise.
»Und die Regenwälder sehen ...«, ergänzte Jack.
»Den Tane Mahuta.« Charlotte lächelte. Der gewaltige Kauri-Baum im Waipuha Forest wurde von den Maoris als Gott des Waldes verehrt.
»Den lieber nicht«, flüsterte Jack. »Ich will nichts mit Göttern zu tun haben, die Liebende trennen.«
4
In Oaks Garden merkte man vorerst nichts vom Krieg, auch wenn Großbritannien seit Anfang August mobil machte. Am 5. August erklärte England dem Deutschen Kaiserreich den Krieg, und der zuständige Minister, Horatio Kitchener, hielt mehrjährige Kampfhandlungen für möglich. Doch die meisten Menschen schüttelten darüber nur den Kopf. Man ging von einem kurzen Krieg aus, die Freiwilligen strömten zu den Fahnen. Das war auch nötig, denn England besaß nur ein relativ kleines Heer, das hauptsächlich in den Kolonien eingesetzt wurde. Eine Wehrpflicht bestand nicht, doch angesichts der offensichtlichen Kriegsbegeisterung in Deutschland und Frankreich wollten die Engländer nicht zurückstehen. Sehr schnell waren sechs neue Divisionen aufgestellt, und die Navy verfrachtete sofort einhunderttausend Soldaten nach Frankreich.
In Oaks Garden las man Kriegslyrik und bemalte Fahnen. Der Naturkundeunterricht wurde lebensnäher, da man Krankenschwestern bat, die Schülerinnen in Erster Hilfe zu unterweisen.
An Gloria rauschte das alles weitgehend vorbei. Ihr Abreisetermin stand inzwischen fest: Am 20. August ging das Schiff von London nach New York. Die Martyns reisten mit kleiner Truppe. Sie würden in Amerika weitere Tänzer anwerben; mittlerweile nahm man es mit der Maori-Abstammung nicht mehr so genau. Die wenigen Sänger und Tänzer, die mitfuhren, waren meist schon jahrelang bei der Truppe und verstanden sich auf die Einweisung neuer Darsteller. Eine von ihnen, Tamatea, eine ältere Maori-Frau, erschien am 19. August in Oaks Garden, um Gloria
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