Der Ruf der Pferde
Stern auf und auf dem Rücken hatte sie einen dunklen Aalstrich. Ihre Augen blickten intelligent und Patricia revidierte nach wenigen Momenten ihr vorschnelles Urteil. Nein, diese Stute war wohl nicht scheu, sondern nur sehr zurückhaltend. Vermutlich nahm sie in der Herde einen nicht allzu hohen Rang ein und wartete daher geduldig, bis die Reihe an sie kam, sich ein paar Streicheleinheiten zu holen.
»Hallo, wer bist denn du?« Patricia merkte nicht, wie sie das Pony leise ansprach.
Die Stute hörte es allerdings sehr wohl, ihre Ohren spielten lebhaft und ihr Ausdruck wurde noch aufmerksamer.
Patricia wusste nicht, warum, aber das Tier rührte sie auf sonderbare Weise. Sie fühlte mit einem Mal den unerklärlichen Wunsch, ihm etwas Gutes zu tun. Es vorsichtig zu streicheln.
Lag es daran, dass sie an der kleinen Stute etwas Einsames, Weiches, Verletzliches wahrzunehmen glaubte, oder bildete sie sich das alles nur ein?
Ohne es zu merken, lehnte sich Patricia wieder an den Zaun. Die drei anderen Ponys hatten inzwischen das Interesse an ihr verloren, nachdem sie ja doch nichts für sie in den Taschen trug. Sie grasten wieder in einiger Entfernung. Die graue Stute hingegen stand immer noch da und beobachtete das Mädchen.
Patricia streckte vorsichtig ihre Hand über die Stange.
»Komm her, meine Schöne, komm doch«, lockte sie sie leise.
Die Graue zögerte, schien das Für und Wider abzuwägen. Dann tat sie einen Schritt in Patricias Richtung, blieb jedoch wieder stehen.
»Na komm«, schmeichelte Patricia. »Ich tu dir nichts.«
Doch die Stute ließ sich nicht verführen. Ob sie die Gegenwart der anderen Pferde hinderte oder ob sie einfach keine Lust auf Streicheleinheiten empfand, vermochte Patricia nicht zu erraten, aber offenbar hatte sie sich entschieden, lieber auf Abstand zu bleiben. Sie senkte den Kopf und fing an, an einigen Gräsern zu zupfen. Audienz beendet, sollte das wohl heißen.
Und Patricia merkte, dass in ihr ein winziges Gefühl der Enttäuschung aufkam.
10.
Am nächsten Tag war der Himmel bedeckt. Der kühle Wind beugte die rauen Gräser und ließ die Büsche und Bäume in Mrs Denchs Garten rauschen. Noch regnete es nicht, aber als Patricia prüfend ihr Zimmerfenster öffnete und hinaussah, merkte sie, dass es feucht roch.
Es konnte ja auch nicht so weitergehen mit dem schönen Wetter, dachte sie. Wann war es hier denn schon mal länger als ein paar Tage am Stück sonnig!
Allerdings beabsichtigte sie nicht, sich von nahendem Schmuddelwetter beeindrucken zu lassen. Ihre Eltern schlugen an solchen Ferientagen meist vor, ein paar Partien Ludo zu spielen. Früher mochte Patricia solche Spielenachmittage. Doch momentan verspürte sie darauf keine besondere Lust. Ivan neigte dazu, sich bei solchen Dingen fürchterlich hineinzusteigern. Er freute sich auf geradezu gehässige Art und Weise, wenn er die Spielfiguren der anderen – allen voran die seiner Schwester – aus dem Rennen werfen konnte, verfiel allerdings in heftige Zornausbrüche, verlor er einmal selbst. Mehr als einmal hatte er vor lauter Wut das Brett samt Figuren durch das Zimmer geworfen, was die gemütliche Stimmung meist in einem großen Familienkrach enden ließ.
Nein, sie ging lieber nach draußen. In weiser Voraussicht hatte ihre Mutter dafür gesorgt, dass sie regenfeste Kleidung einpackten, und Patricia öffnete ihren Schrank, um den Regenmantel herauszuholen.
Besonders viel machte er ja nicht her, befand sie mit einem prüfenden Blick. Das schlichte dunkelblaue Kunststoffmaterial und den Schnitt durfte man nicht gerade als trendy bezeichnen. Aber das war egal, immerhin hielt er den kühlen Wind ab und war einigermaßen wasserdicht, und darauf kam es an. Im gleichen Moment wunderte sie sich über sich selbst. Seit wann interessierte sie sich denn dafür, ob ihre Kleidung der neuesten Mode entsprach oder nicht? So ein Blödsinn!
»Willst du weg?« Ihre Mutter trat gerade auf den Gang, als Patricia die Treppe hinunterwollte. »Es regnet sicher bald.«
»Das macht nichts, ich ziehe meinen Regenmantel an«, rief Patricia über die Schulter und hoffte, dass die Mutter nicht wissen wollte, wohin sie ging. Dass Patricia vorhin nach dem Frühstück heimlich in den Brotkorb gegriffen und sich die übrig gebliebenen Scheiben in ihre Tasche gestopft hatte, war glücklicherweise unbemerkt geblieben. Und wenn Mrs Dench sich wundern sollte, warum heute das Brot nicht gereicht hatte, so ließ sie sich das zumindest nicht anmerken.
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