Der Ruf der Pferde
Vermutlich tischte sie eben ab morgen noch mehr auf.
Patricia fühlte sich total unsicher. Was tat sie da eigentlich?
Wollte sie wirklich wieder zu den Ponys?
Nein.
Und warum packte sie dann Brot ein?
Für unterwegs, redete sie sich ein. Schließlich war ein Tag lang und da bekam sie sicher irgendwann Hunger.
Was für ein Schwachsinn, schalt sie sich selbst. Bisher hatte sie es noch nie für nötig befunden, sich Proviant mitzunehmen – im Gegenteil, es war ihr stets schwergefallen, das Sandwich herunterzubringen, das ihr Mrs Dench immer aufnötigte.
Also, was sollte der Selbstbetrug?
Wo blieb ihre Ehrlichkeit?
Sie würde natürlich zu den Ponys gehen. Das Bild der kleinen grauen Stute hatte sie seit dem Vortag nahezu ununterbrochen verfolgt. Sie wusste nicht, warum, schließlich ging sie das Tier nichts an. Aber wie es da stand, abseits von den anderen, und nicht wagte, an den Zaun zu kommen... Patricia fühlte sich mit der Grauen irgendwie seelenverwandt. Als ob sie in geheimnisvoller Weise ihre eigenen Probleme widerspiegeln würde.
War das der Grund, warum sie das Pony nicht aus dem Kopf bekam?
Entschlossen schnürte Patricia ihren Regenmantel bis unters Kinn zu, setzte sich die Kapuze auf, steckte ihre Hände in die Taschen und wandte sich in die Richtung der Hügel, hinter denen die Koppeln lagen. Es hatte bereits zu nieseln begonnen und die Hügel verschwammen hinter einem Schleier aus Abermillionen feiner Tröpfchen. Patricia war sich sicher, dass sie trotz Regenmantel hinterher durchnässt sein würde. Der kühle Wind pfiff ganz schön!
Aber dafür musste sie heute wohl nicht befürchten, Leuten vom Hof zu begegnen. Bei solchem Wetter ritten sie bestimmt nicht. Immerhin war ein Ausritt im Regen ja nicht gerade das, was sich Touristen gemeinhin als Urlaubsvergnügen vorstellten.
Die Ponys störten sich hingegen nicht am Regen.
Als Patricia an ihren Koppelzaun trat, grasten sie in aller Gemütsruhe und das einzige Zugeständnis, das sie an die Nässe machten, war ein flüchtiges Schütteln der dicken Mähnen, wenn sich diese zu sehr vollsogen.
Es war immer noch dieselbe Gruppe wie am Vortag. Der Falbe, der Patricia offenbar wiedererkannte, kam sogleich angelaufen.
»Ja, du willst mich bestimmt an mein Versprechen von gestern erinnern.« Patricia klopfte das nasse Fell des Ponys und zog dann eine Scheibe Brot aus der Manteltasche. Natürlich wusste sie, dass man Pferde eigentlich nur mit altem, hartem Brot füttern sollten, weil sie von frischem möglicherweise Verdauungsbeschwerden bekamen. Sie hatte deshalb ein schlechtes Gewissen, doch tröstete sie sich damit, dass es sich ohnehin nur um drei kleine Scheiben handelte – und verteilt auf die Anzahl der Tiere, war das herzlich wenig.
Der Falbe schien allerdings der Ansicht, die Leckerei gebühre ihm ganz allein. Als sich weitere Ponys neugierig näherten, versuchte er, sie von dem spendablen Menschen wegzubeißen, und als sie sich nicht darum scherten, keilte er kurz aus.
»He! So nicht!« Patricia hatte ihm ein kleines Stück gereicht, doch nun schubste sie ihn energisch zur Seite. »Es wird gerecht geteilt, verstanden?«
Die anderen Ponys drängten nun ebenfalls an den Zaun und Patricia bemühte sich, jedem ein gleich großes Stück Brot zu geben. Da der Falbe sich trotzdem immer wieder dazwischenschob, gestaltete sich das etwas schwierig, doch schließlich schien jedes Tier eine kleine Portion erhalten zu haben.
Mit Ausnahme der grauen Stute. Sie stand wie das letzte Mal in einigem Abstand da und beobachtete ruhig das Getümmel.
Patricia versuchte, sie heranzulocken, doch merkte sie rasch, dass es zwecklos war. Solange die anderen Ponys ihre gierigen Nüstern immer wieder vorstreckten und der Stute den Weg versperrten, würde sie nicht kommen, das schien deutlich.
Hm, was tun? Dass die Graue nicht übergangen werden durfte, war logisch.
Patricia überlegte kurz. Dann sah sie sich um, ob jemand in der Nähe war. Keiner da.
Also los . . .
Sie bückte sich und kletterte zwischen den Zaunstangen hindurch auf die Koppel. Der Regenmantel wurde dabei etwas in Mitleidenschaft gezogen, doch ein flüchtiger Blick zeigte, dass er nur schmutzig geworden war und keinen Riss hatte.
Die Ponys schienen erfreut über den Besuch auf ihrer Weide. Sie drängten sich um Patricia und der Falbe versuchte wieder, an den Rest des Brotes zu gelangen.
»Nein, du kriegst nichts mehr, du verfressener Kerl«, sagte Patricia zu ihm und schob ihn sanft, aber
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