Der Ruf der Pferde
fest. Sie fühlte rasenden Zorn, und obwohl es ihr leidtat, dass sie Dallis durch ihr Eingreifen noch mehr verängstigte, vermochte sie sich nicht zu beherrschen.
»Wie kommst du dazu, das Pferd zu schlagen?« Ihre Stimme klang schrill. Im gleichen Moment fiel ihr ein, dass sie Emily schon einmal in so einer Situation erlebt hatte – damals, bei ihrer ersten Begegnung. Nur hatte es sich da nicht um Dallis gehandelt, sondern um einen Schimmelwallach.
Emily war im ersten Moment verdattert, doch dann fand sie ihre Stimme wieder.
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht«, erwiderte sie schneidend.
»Es geht mich durchaus was an«, fauchte Patricia. »Man schlägt keine Pferde und schon gar nicht dieses, kapiert?«
Emily presste die Lippen zusammen. »Wenn das Pferd nicht tut, was ich will, dann darf ich es schlagen, das ist mein gutes Recht.«
»So, dein gutes Recht! Woher hast du denn solche Weisheiten? Hat dir keiner beigebracht, dass man mit den Tieren behutsam umgeht?«
»Ich weiß sehr wohl, wie man reitet«, gab Emily hoheitsvoll zurück und wischte ein unsichtbares Staubkorn von ihrem Ärmel. »Du brauchst mir keine Nachhilfestunden zu geben, danke.« Das Wörtchen mir betonte sie dabei besonders.
Das war natürlich eine Anspielung auf Michelle. Patricias Augen wurden schmal.
»Ich glaube allerdings, ein paar Lektionen würden dir ebenfalls nicht schaden«, stellte sie angewidert fest. »Ein Tier, das sich nicht wehren kann, zu schlagen, ist ja wohl das Allerletzte!«
Emily zog nur die Augenbrauen hoch. »Das sehe ich anders«, sagte sie. »Besonders wenn es ein derart faules Biest ist wie dieses hier.«
»Ach nee! Vielleicht liegt es ja an dir?« Patricia musterte Dallis flüchtig, sah, wie erschöpft das Tier war, und ihr Zorn schwoll weiter an. »Was hast du überhaupt mit der Stute angestellt, dass sie so fertig ist?«
»Ich habe überhaupt nichts mit ihr angestellt«, gab Emily kühl zurück. »Allerdings darf ich ja wohl erwarten, dass mein Pferd galoppiert, wenn ich galoppieren möchte.«
Patricia atmete tief durch. Nur die Ruhe bewahren, dachte sie bei sich. Es brachte nichts, wenn sie sich von ihrem Zorn hinreißen ließ. Besser, sie versuchte, mit dem Mädchen vernünftig zu reden. Emily musste etwa im gleichen Alter sein wie sie selbst, da sollte sich doch ein Draht finden lassen. Sie bemühte sich um einen ruhigeren Ton.
»Bist du nie auf die Idee gekommen, dass die Stute schon etwas älter ist und vielleicht auch mal müde sein könnte? Die Ponys hier gehen mehrmals am Tag. Auch Dallis war mit Sicherheit heute schon vorher draußen. Und ich möchte dich mal sehen, wie du beieinander wärst, wenn du mehrere Stunden am Stück rennen müsstest!«
Emily straffte ihre Haltung noch mehr. »Wir reden hier ja wohl von einem Pferd und nicht von einem Menschen, oder?«, erwiderte sie ungerührt. »Wenn der Gaul so empfindlich ist, dann hätte er eben kein Reitpferd werden dürfen. Immerhin habe ich für die Stunde bezahlt und mein Vater sagt immer, man darf für sein Geld volle Leistung erwarten. Das bedeutet, dass ich genau so reiten kann, wie es mir gefällt, ohne dass der Gaul schlappmacht.«
»Aha, das erwartest du also. Und deshalb verlangst du von einem müden Pony Höchstleistungen und prügelst es, wenn es nicht mehr kann?«
»Wenn es sonst nicht laufen will, klar.«
»Das hat nichts mit wollen zu tun, es kann nicht, weil es völlig fertig ist.« Patricia wurde laut. »Hast du das immer noch nicht ka piert? Sieh es dir doch bloß mal an!« Sie deutete auf die kleine Stute.
Emily schaute deutlich befremdet auf Dallis hinunter.
»Das ist nicht mein Problem«, versetzte sie kalt. »Ob der Gaul kaputt ist oder nicht, kann mir doch egal sein. Es ist ja schließlich nicht meiner. Um so was haben sich gefälligst die Leute hier zu kümmern, denen er gehört.« Emily sah Patricia feindselig an. »Wenn sie das Pferd vermieten, obwohl es müde ist, dann ist das eben sein Pech. Beschwer dich also woanders, wenn dir was nicht passt«, fügte sie noch hinzu.
Patricia starrte sie sprachlos an. Nein, da war kein Draht zu finden. Patricia kannte aus der Schule und vom Reiten viele Mädchen –, nette und weniger nette gefühlvolle und eher materialistisch eingestellte –, doch nie zuvor hatte sie eine derartig kaltschnäuzige Person erlebt wie nun diese Emily. Am liebsten hätte sie das Mädchen aus dem Sattel gezerrt und ihr ein paar Ohrfeigen verpasst, der Drang dazu war kaum zu beherrschen.
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