Der Ruf der Pferde
kleinen Hengstes, der sofort begann, an ihrem Ärmel zu knabbern.
»Ich hab ihn gerade gefunden«, sagte sie und lachte, als Monty mutwillig an ihrem Pullover zerrte.
»Wieder ausgebüxt, was?« Patricia lachte ebenfalls und trat heran, um das Pony zu klopfen. »Na, Monty, wo wolltest du denn schon wieder hin?«
»Er war auf dem Weg ins Dorf«, erzählte Michelle. »Vielleicht wollte er sich ja ein Eis kaufen.« Sie kicherte. »Ich hätte ihm sagen können, dass Erdbeer heute aus ist.«
Nanu, was war denn auf einmal mit Michelle los?, wunderte sich Patricia. Sie wirkte ungewöhnlich fröhlich, so kannte sie sie ja gar nicht. Und dass sie den Mut aufgebracht hatte, das übermütige Pony so einfach einzufangen und zurückzubringen – alle Achtung!
Doch Michelle schien tatsächlich über Nacht alle Ängste abgelegt zu haben. Als Monty nach dem Ärmel ihres Pullovers nun auch noch ihre Haare in Angriff nehmen wollte, gab sie ihm einen leichten Klaps. »Schluss jetzt«, tadelte sie ihn energisch. »Ich geh lieber zu Hause zum Frisör!«
Patricia war verblüfft. War das Michelle? Dieselbe Michelle, die sonst Angstschreie ausstießen, sobald ihr Pferd auch nur schnaubte?
»Übrigens«, begann sie ein wenig unsicher, »es tut mir leid, dass ich neulich nicht Bescheid gesagt hatte . . .«
Sie kam nicht weiter. Michelle schaute sie mit leuchtenden Augen an.
»Du hattest recht«, sagte sie und ihr kleines Gesicht strahlte richtig. »Ich hab’s endlich kapiert.«
»Womit recht?« Patricia war nun vollends verwirrt.
»Mit dem Reiten.« Selbst Michelles Stimme klang ganz anders als sonst. Nicht mehr so leise und gedrückt.
»Mit dem Reiten?« Patricia verstand immer noch nicht.
»Ich hör auf damit«, verkündete Michelle und ihr Gesichtsausdruck zeigte ebenso wie ihr Tonfall, dass es ihr todernst mit diesem Entschluss war.
»Du hörst mit dem Reiten auf?« Jetzt erst bemerkte Patricia, dass Michelle heute nicht in Reitkleidung gekommen war. Sie trug gewöhnliche Jeans und Sportschuhe. Warum war ihr das nicht sofort aufgefallen?
»Du hast mir dauernd gesagt, dass ich mich nicht dazu zwingen muss. Dass es genug andere Sachen gibt, die mir bestimmt besser liegen. Und dass ich nichts tun muss, vor dem ich Angst habe, nur weil andere es von mir erwarten. Stimmt’s nicht? Das hast du immer gesagt.« Michelle blickte Patricia nun doch ein kleines bisschen ängstlich an.
»Hm, ja, hab ich.« Patricia wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Sie sollte tatsächlich die Ursache für diesen Schnellschuss gewesen sein? Was hatte sie da nur angerichtet, mit ihren gedankenlosen Reden!
Aber dann sah sie Michelle an. Erkannte die Verwandlung des Mädchens, die ungewohnte Energie, die plötzlich aus ihr sprach. Und auf einmal wurde ihr klar, unter was für einem Druck Michelle gestanden haben musste. Was das Reiten für eine immense Belastung für sie gewesen war.
Und auf einmal war Patricia froh, ihr das alles gesagt zu haben.
»Mensch, Michelle!« Es kam aus vollem Herzen. »Das finde ich wirklich cool von dir!« Sie merkte, wie sie unwillkürlich breit lächelte.
Michelle erwiderte das Lächeln. »Du hältst mich nicht für feige?«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach Patricia ehrlich. »Es ist sehr mutig. Ich weiß schließlich, wie sehr du dich bemüht hast, und du hast trotz deiner Angst nicht aufgegeben. Das allein schon ist echter Mut.« Spontan legte sie der Jüngeren ihre Hand auf die Schulter. »Aber noch mutiger ist es, seine Grenzen zu erkennen und zu respektieren. Es gehört nämlich verdammt viel Überwindung dazu, sich einzugestehen, dass man sich auf einem falschen Weg befindet. Außerdem...«Sie lächelte Michelle an, ». . . könnte ich mir vorstellen, dass es ganz schön hart war, diese Entscheidung deiner Familie zu verkaufen, oder?«
Michelle verzog das Gesicht. »Das kannst du glauben«, sagte sie. »Ich hab gedacht, meine Eltern bringen mich bestimmt um, wenn ich ihnen eröffne, dass ich nicht mehr reiten will.« Sie lächelte plötzlich. »Doch dann war es gar nicht so schlimm. Ich hab es ihnen erklärt und sie waren zwar alles andere als begeistert, aber . . .«
». . . Sie haben gemerkt, dass es dir ernst ist«, nickte Patricia. »Sie konnten dir ja auch wirklich nicht vorwerfen, dass du es nicht versucht hast.«
»Eben. Und das wissen sie auch. Nadine hat natürlich wieder gesagt, ich sei bloß zu feig dazu, aber das war mir echt egal.« Michelles Gesicht zeigte allerdings deutlich,
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