Der Ruf Der Trommel
Krusten überzogener Wange zuckte ein Muskel.
»Ich verstehe. Dann bentuzt er also den Begriff ›zur Vernunft bringen‹ im weitesten Sinne, ja?«
»Mueller kann man nur mit Methoden zur Vernunft bringen, die nicht komplexer sind als ein Axtstiel«, sagte ich. »Aber inwiefern ist er denn unvernünftig?«
Grey zögerte, wandte sich dann erneut an den kleinen Priester, fragte ihn noch etwas und lauschte gebannt dem darauffolgenden deutschen Sturzbach.
Stück für Stück, unter ständigen Unterbrechungen und häufigem Gestikulieren, kam die Übersetzung der Geschichte heraus.
Wie Lord John uns schon berichtet hatte, gab es eine Masernepidemie in Cross Creek. Diese hatte offensichtlich auf das Hinterland übergegriffen; mehrere Haushalte in Salem waren betroffen, doch die Muellers hatten dank ihrer Isolation bis vor kurzem keine Ansteckung erlitten.
Doch am Tag, bevor sich die ersten Masernsymptome zeigten, hatte eine kleine Gruppe Indianer auf dem Muellerhof haltgemacht und hatte um etwas zu Essen und zu Trinken gebeten. Mueller, mit dessen Ansichten über Indianer ich bestens vertraut war, hatte sie unter einem Schwall von Beschimpfungen verjagt. Die beleidigten Indianer hatten - so Mueller - mysteriöse Zeichen in Richtung des Hauses gemacht, als sie fortritten.
Als am nächsten Tag die Masern in der Familie ausbrachen, stand für Mueller fest, daß ihnen die Krankheit angehext worden war, daß die Indianer, die er vor den Kopf gestoßen hatte, sie über sein Haus gebracht hatten. Er hatte sogleich Symbole gegen den Zauber auf die Wände gemalt und den Pastor aus Salem herbeigerufen, damit er einen Exorzismus durchführte… »Ich glaube, das hat er gesagt«, fügte Lord John zweifelnd hinzu. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob er damit meint…«
»Egal«, sagte ich ungeduldig. »Weiter!«
Keine dieser Vorsichtsmaßnahmen hatte Mueller etwas genützt, und als Petronella und das Neugeborene der Krankheit erlagen, hatte der alte Mann den Rest seines Verstandes verloren. Unter Racheschwüren gegen die Wilden, die diese Katastrophe über seinen Haushalt gebracht hatten, hatte er seine Söhne und Schwiegersöhne gezwungen, ihn zu begleiten, und war in die Wälder davongeritten.
Vor drei Tagen waren sie von dieser Expedition zurückgekehrt, die Söhne bleich und schweigsam, der alte Mann fiebernd vor kalter Genugtuung.
Gottfried sprach weiter, und die Erinnerung trieb ihm den Schweiß ins Gesicht. Ich war dort, hatte er gesagt. Ich habe ihn gesehen.
Von einer hysterischen Botschaft der Frauen herbeigerufen, war der Pastor in den Stallhof geritten und hatte zwei lange, schwarze Haarzöpfe vorgefunden, die vom Scheunentor herabhingen und sich sanft über einer grob gemalten deutschen Aufschrift im Wind wiegten.
»Das heißt ›Rache‹«, übersetzte Lord John für mich.
»Ich weiß«, sagte ich, und mein Mund war so ausgetrocknet, daß ich kaum sprechen konnte. »Ich habe Sherlock Holmes gelesen. Ihr meint, er…«
»Ganz offensichtlich.«
Der Pastor redete immer noch; er ergriff meinen Arm und schüttelte ihn, um mir die Dringlichkeit seiner Botschaft klarzumachen. Greys Blick verschärfte sich als Reaktion auf die folgenden Worte des Priesters, und er unterbrach ihn mit einer abrupten Frage, die mit wildem Kopfnicken beantwortet wurde.
»Er ist auf dem Weg hierher. Mueller.« Grey schwang mit alarmiertem Gesicht zu mir herum.
Der Pastor, der über die Skalpe fürchterlich erschrocken war, hatte sich auf die Suche nach Herrn Mueller gemacht und mußte feststellen, daß der Patriarch seine grausigen Trophäen an die Scheune genagelt und dann den Hof verlassen hatte, in Richtung Fraser’s Ridge - hatte er gesagt -,um mich aufzusuchen.
Wenn ich nicht schon gesessen hätte, wäre ich bei dieser Nachricht vielleicht zusammengebrochen. Ich fühlte, wie mir das Blut aus den Wangen wich, und ich war mir sicher, daß ich mindestens so bleich war wie Pastor Gottfried.
»Warum?« sagte ich. »Ist er - er kann doch nicht! Er kann doch nicht glauben, daß ich Petronella oder dem Baby etwas angetan habe. Oder?« Ich wandte mich flehend an den Pastor, der sich mit seiner aufgedunsenen, zitternden Hand durch sein graumeliertes Haar fuhr und die sorgsam eingefetteten Strähnen durcheinanderbrachte.
»Der Kirchenmann weiß nicht, was in Mueller vorgeht oder in welcher Absicht er kommt«, sagte Lord John. Er ließ den Blick interessiert über die wenig einnehmende Gestalt des Pastors gleiten. »Zu seiner großen Ehre
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