Der Ruf Der Trommel
bestimmt gerade Mrs. Dunvegan, die Frau des Pfarrers, die Blumen für den Sonntagsgottesdienst auf der Kanzel arrangieren, oder? Nein, das würde sie nicht - Mrs. Dunvegan mit ihren dicken Wollpullovern und den fürchterlichen Napfkuchen, mit denen sie die kranken Gemeindemitglieder traktierte, gab es noch gar nicht. Und doch stand die kleine Steinkirche fest und vertraut da, in der Obhut eines Fremden.
Die Kirche seines Vaters war noch nicht da; sie war - würde? - 1837 gebaut worden. Ebenso hatte man das Pfarrhaus, das ihm immer so alt und gebrechlich vorgekommen war, erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut. Er war an dem Grundstück vorbeigekommen; im Augenblick befand sich dort nur ein Dickicht aus Fingerkraut und Ginster, und ein einzelner Ebereschenschößling sproß aus dem Unterholz hervor und ließ sein Laub im sanften Wind flattern.
Dieselbe feuchte Kühle lag in der Luft, frisch und kribbelnd - doch der allgegenwärtige Gestank der Autoabgase fehlte und war einem schwachen Abwassergeruch gewichen. Was ihm am meisten auffiel, war das Fehlen der Kirchen; dort, wo eines Tages beide Ufer von vornehmen
Türmen und Spitzdächern nur so wimmeln würden, verteilten sich jetzt nur kleine Häuser.
Es gab nur die eine, steinerne Fußgängerbrücke, doch der River Ness war ganz der alte. Der Fluß war nicht tief, in den Stromschnellen saßen die gleichen Möwen und kreischten sich gegenseitig zu, während sie zwischen den Steinen, die gerade eben unter der Wasseroberfläche lagen, kleine Fische fingen.
»Viel Glück, Kumpel«, sagte er zu einer feisten Möwe, die auf der Brücke saß, und ging über den Fluß in die Stadt.
Hier und dort stand ein elegantes Anwesen, abgeschirmt durch ein großes Grundstück, eine Dame von Welt, die ihre Röcke ausbreitete und die Anwesenheit des umstehenden Pöbels ignorierte. In einiger Entfernung von ihm stand Mountgerald; das große Haus sah exakt so aus, wie er es in Erinnerung hatte, nur daß die großen Rotbuchen, die es später umgeben würden, noch nicht gepflanzt waren; statt dessen lehnte sich eine Reihe spindeldürrer, italienischer Zypressen traurig an die Gartenmauer und machten ganz den Eindruck, als hätten sie Heimweh nach ihrem sonnigen Geburtsland.
Trotz seiner Eleganz sagte man Mountgerald nach, das Haus sei in der denkbar ältesten Tradition gebaut worden - indem man das Fundament über einem Menschenopfer errichtete. Der Sage nach hatte man einen Arbeiter in das Kellerloch gelockt und ihm von der neu gebauten Mauer aus einen Stein auf den Kopf fallen lassen, der ihn erschlug. Er war - so besagte die Lokalgeschichte - dort im Keller begraben worden, sein Blut ein Sühneopfer für die hungrigen Erdgeister, welche somit zufriedengestellt gestattet hatten, daß das Gebäude die Jahre blühend und unbehelligt überstand.
Im Augenblick konnte das Haus nicht älter sein als zwanzig oder dreißig Jahre. Es war gut möglich, daß noch Menschen in der Stadt lebten, die an seiner Errichtung mitgearbeitet hatten; die genau wußten, was in diesem Keller geschehen war, wem und warum.
Doch er hatte anderes zu tun; Mountgerald und sein Geist würden ihr Geheimnis für sich behalten müssen. Mit einem leisen Stich des Bedauerns ließ er das große Haus hinter sich und wandte seine Historikernase der Straße zu, die flußabwärts zu den Docks führte.
Mit einem Gefühl, das man nur als déjà vu bezeichnen konnte, schob er die Tür einer Kneipe auf. Der Fachwerkeingang mit dem Steinfußboden war derselbe, den er noch vor einer Woche gesehen hatte - und in zweihundert Jahren -, und der vertraute Geruch von Hopfen und Gerste in der Luft tröstete seine Lebensgeister. Der Name hatte sich verändert, doch der Biergeruch nicht.
Roger trank einen tiefen Schluck aus seinem Holzbecher und verschluckte sich fast. »Alles in Ordnung, Mann?« Der Wirt blieb stehen, einen Eimer Sand in der Hand, und sah Roger an.
»Klar«, sagte Roger heiser. »Alles klar.«
Der Wirt nickte und streute weiter seinen Sand aus, doch er behielt Roger aus Erfahrung im Blick für den Fall, daß dieser drohte, sich auf den frisch gekehrten und mit Sand bestreuten Boden zu übergeben.
Roger hustete und räusperte sich, dann probierte er vorsichtig noch einen Schluck. Der Geschmack war in Ordnung; er war sogar sehr gut. Es war der Alkoholgehalt, mit dem er nicht gerechnet hatte; dieses Zeug hatte es in sich wie kein modernes Bier, das Roger je untergekommen war. Claire hatte gesagt, Alkoholismus
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