Der Ruf Der Trommel
ließ sie sich auch nur von den Emotionen der anderen Passagiere anstecken. Viele standen genau wie sie an der Reling, und einige weinten ganz offen. Oder die Furcht vor der langen Reise, die ihr bevorstand. Doch sie wußte sehr gut, daß es keins von diesen Dingen war.
»Das war’s dann wohl.« Es war Lizzie, die schließlich doch neben ihr auftauchte, um den letzten Anblick des Festlandes verschwinden zu sehen. Ihr schmales, blasses Gesicht war ausdruckslos, doch Brianna verwechselte den fehlenden Ausdruck nicht mit dem Fehlen von Gefühlen.
»Ja, wir sind unterwegs.« Aus einem Impuls heraus streckte Brianna die Hand aus und zog das Mädchen an sich, so daß sie vor ihr an der Reling stand, gleichermaßen vor dem auffrischenden Wind und den Stößen der Passagiere und Seeleute geschützt. Lizzie war einen guten Kopf kürzer als Brianna und so zart gebaut wie die schlanken, rußfarbenen Seeschwalben, die die Masten umkreisten und über ihren Köpfen kreischten.
Um diese Jahreszeit ging die Sonne nicht wirklich unter, sondern sie hing tief über den schwarzen Hügeln, und die Luft über dem Firth war sehr kalt geworden. Das Mädchen war dünn angezogen; sie zitterte und drückte sich ganz unbefangen an Brianna, um sich zu wärmen. Brianna hatte von Jenny ein blaues Arisaid bekommen; sie schlang die Arme und die Enden des Schultertuches um das jüngere Mädchen und fand in der Umarmung ebensoviel Trost wie sie spendete.
»Es wird alles gut«, sagte sie zu sich selbst genauso wie zu Lizzie.
Der hellblonde Kopf wackelte kurz unter ihrem Kinn; sie konnte nicht sagen, ob es ein Nicken war oder ob Lizzie nur versuchte, ihre Augen von den vom Wind zerzausten Haarsträhnen zu befreien. Auch aus ihrem eigenen Zopf hatten sich verfilzte Löckchen gelöst und flatterten in der steifen, salzigen Brise wie ein Echo des Sogs der riesigen Segel über ihr. Trotz ihrer Zweifel frischten ihre Lebensgeister
mit dem Wind auf. Sie hatte schon so manchen Abschied überstanden; sie würde auch diesen ertragen. Das war es, was diesen Abschied so schwer machte, dachte sie. Sie hatte bereits ihren Vater, ihre Mutter, ihren Liebsten, ihr Zuhause und ihre Freunde verloren. Sie war allein, weil es nicht anders ging und weil sie sich so entschieden hatte. Doch so unerwartet in Lallybroch wieder ein Zuhause und eine Familie zu finden, hatte sie überrumpelt. Sie hätte beinahe alles gegeben, um zu bleiben - nur noch ein bißchen.
Doch sie hatte Versprechungen einzulösen und Verluste wiedergutzumachen. Dann konnte sie heimkehren. Nach Schottland. Und zu Roger.
Sie bewegte ihren Arm und spürte sein schmales Silberband warm auf ihrem Handgelenk unter dem Schultertuch, das Metall von ihrer Haut erwärmt. Un peu… beaucoup… Ihre andere Hand, mit der sie das Tuch zusammenhielt, war dem Wind ausgesetzt und feucht von der Gischt. Wenn sie nicht so kalt gewesen wäre, hätte sie vielleicht die plötzliche Wärme des Tropfens nicht bemerkt, der ihr auf den Handrücken fiel.
Lizzie stand stocksteif da und hatte die Arme fest um sich selbst geschlungen. Ihre Ohren waren groß und durchsichtig, ihr feines, dünnes Haar lag glatt an ihrem Schädel. Ihre Ohren standen ab wie die eines Mäuschens, zart und zerbrechlich im sanften, gedämpften Licht der niedrigen Nachtsonne.
Brianna hob die Hand und wischte die Tränen weg, die sie ertasten konnte. Ihre Augen waren trocken und ihre Zähne fest zusammengebissen, als sie über Lizzies Kopf hinweg zum Festland hinübersah, doch das kalte Gesicht und die zitternden Lippen, die sie mit der Hand spürte, hätten genausogut ihre eigenen sein können.
Sie standen noch eine Zeitlang schweigend da, bis das Land vollständig verschwunden war.
36
Es gibt kein Zurück
Inverness, Juli 1769
Roger ging langsam durch die Stadt und sah sich mit einer Mischung aus Faszination und Entzücken um. Inverness hatte sich in den letzten zweihundert Jahren ziemlich verändert, kein Zweifel, und doch war es eindeutig dieselbe Stadt; sicher, es war ein ganzes Stück kleiner, und die Hälfte seiner schlammigen Straßen war ungepflastert, und doch kannte er die Straße, die er gerade entlangspazierte, war sie schon hundert Mal entlangspaziert.
Es war die Huntly Street, und während die meisten der kleinen Geschäfte und Gebäude ihm neu waren, stand am anderen Flußufer die Old High Church - zur Zeit noch nicht ganz so alt -, und ihr stämmiger Turm war so kantig wie eh und je. Wenn er jetzt eintreten würde, würde doch
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