Der Ruf Der Trommel
sei typisch für diese Zeit, und Roger konnte gut sehen, warum. Wenn allerdings Alkoholismus das größte Problem gewesen wäre, dem er sich gegenübersah, dann hätte er damit umgehen können.
Er saß still an der Feuerstelle, trank und genoß das dunkle, bittere Gebräu, während er beobachtete und die Ohren spitzte.
Es war eine Hafenkneipe, und sie war gut besucht. Da sie so nah an den Docks am Moray Firth lag, beherbergte sie Schiffskapitäne und Kaufleute ebenso wie Matrosen von den Schiffen, die im Hafen vor Anker lagen, und Hafenarbeiter und Arbeiter aus den umliegenden Lagerhäusern. Auf den bierfleckigen Oberflächen ihrer zahlreichen Tische wurde eine Vielzahl von Geschäften besiegelt.
Mit halbem Ohr konnte Roger hören, wie ein Vertrag für die Verschiffung von dreihundert Ballen billigen Drogettstoffes aus Aberdeen in die Kolonien abgeschlossen wurde, der gegen eine Schiffsladung Reis und Indigo aus Carolina ausgetauscht werden sollte. Hundert Gallowayrinder, sechs Zentner Kupfer, Fässer mit Schwefel, Melasse und Wein. Mengen und Preise, Lieferdaten und -bedingungen trieben durch das Gerede und den Biergeruch der Kneipe wie die dichten, blauen Tabakrauchwolken, die knapp unter den niedrigen Deckenbalken schwebten.
Doch es wurde nicht nur mit Waren gehandelt. In einer Ecke saß ein Schiffskapitän, wie man an seinem langschößigen Rock und dem feinen, schwarzen Dreispitz erkennen konnte, der neben seinem Ellbogen auf dem Tisch lag. Ein Gehilfe assistierte ihm, und Hauptbuch und Geldkassette lagen vor ihm auf dem Tisch, während er einen unablässigen Strom von Menschen anhörte, Emigranten, die für sich und ihre Familien eine Möglichkeit zur Überfahrt in die Kolonien suchten.
Roger beobachtete die Vorgänge unauffällig. Das Schiff sollte nach
Virginia fahren, und nachdem er einige Zeit zugehört hatte, schloß er, daß die Fahrtkosten für einen männlichen Passagier - wenn er wie ein feiner Herr reisen wollte - zehn Pfund und acht Schillinge betrug. Wer willens war, im Zwischendeck zu reisen, zusammengepfercht wie die Fässer und das Vieh unten im Frachtraum, konnte für vier Pfund, zwei Schillinge pro Nase an Bord gehen, wenn er die Verpflegung für die sechswöchige Reise selbst mitbrachte. Trinkwasser, so verstand er, wurde zur Verfügung gestellt.
Für jene, die die Überfahrt begehrten, sie aber nicht finanzieren konnten, gab es andere Möglichkeiten.
»Zwangsarbeit für Euch, Eure Frau und Eure beiden älteren Söhne?« Der Kapitän legte abschätzend den Kopf schräg und betrachtete die Familie, die vor ihm stand. Ein kleiner, sehniger Mann, der vielleicht Anfang Dreißig war, aber viel älter aussah, schäbig und von der Arbeit gebeugt. Seine Frau, vielleicht ein wenig jünger, die hinter ihrem Mann stand, die Augen fest auf den Boden geheftet, und zwei kleine Mädchen fest an den Händen hielt. Die älteren Jungen standen bei ihrem Vater und gaben sich Mühe, männlich zu wirken. Roger hielt sie für vielleicht zehn und zwölf, unter Berücksichtigung der Unterernährung, die für ihre schwächliche Statur verantwortlich war.
»Ihr selbst und die Jungen, aye, das geht«, sagte der Kapitän. Er blickte stirnrunzelnd auf die Frau, die ihren Blick nicht hob. »Niemand wird eine Frau mit so vielen Kindern kaufen - vielleicht kann sie eins behalten. Aber die Mädchen müßt Ihr verkaufen.«
Der Mann sah sich nach seiner Familie um. Seine Frau hielt den Kopf gesenkt, unbeweglich, ohne irgend etwas anzusehen. Eins der Mädchen zuckte und wand sich jedoch und beschwerte sich leise, daß ihre Hand zerquetscht würde. Der Mann wandte sich wieder um.
»Gut«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Können sie - dürfen sie vielleicht - zusammen gehen?«
Der Kapitän rieb sich mit der Hand über den Mund und nickte beiläufig.
»Sehr wahrscheinlich.«
Roger wartete die Details der Transaktion nicht ab. Er stand abrupt auf und verließ die Kneipe; das dunkle Bier schmeckte ihm nicht mehr.
Draußen auf der Straße blieb er stehen und befühlte die Münzen in seiner Tasche. Es war alles, was er in der Zeit, die ihm zur Verfügung stand, an passendem Geld hatte auftreiben können. Allerdings hatte er gedacht, daß es reichen würde; er war kräftig gebaut und hatte einiges Vertrauen in seine Fähigkeiten. Doch die kleine Szene, die er in der Kneipe erlebt hatte, hatte ihn erschüttert.
Er war mit der Geschichte der Highlands aufgewachsen. Er wußte sehr gut, was eine Familie so tief in die
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