Der Ruf Der Trommel
hindurch, vorbei an den massiven Bäuchen der dicht an dicht gereihten Wasserfässer.
Er holte Atem, die Luft war vom Geruch feuchten Holzes erfüllt, den das schwache Parfüm des Tees überlagerte. Es raschelte und ächzte, viele seltsame Geräusche - doch keine Spur von der Anwesenheit eines Menschen. Dennoch war er sich sicher, daß jemand hier war.
Und warum bist du hier, Kumpel? dachte er. Was, wenn einer der Passagiere aus dem Zwischendeck hier Zuflucht gesucht hatte? Wenn jemand hier versteckt lag, hatte er wahrscheinlich die Pocken; Roger konnte nichts für ihn tun - warum sich also die Mühe machen und nachsehen?
Weil er es nicht lassen konnte, lautete die Antwort. Er machte sich keine Vorwürfe darüber, daß er es nicht geschafft hatte, die pockenkranken Passagiere zu retten; ihnen hätte sowieso nichts helfen können, und vielleicht war der schnelle Tod durch Ertrinken ja wirklich nicht schlimmer als die langsame Agonie der Krankheit. Das hätte er jedenfalls gern geglaubt.
Doch er hatte nicht geschlafen; die Ereignisse der Nacht hatten ihn mit einem solchen Gefühl des Entsetzens und der angewiderten Hilflosigkeit erfüllt, daß er keine Ruhe finden konnte. Ob er jetzt etwas tun konnte oder nicht, er mußte irgend etwas tun. Er mußte nachsehen.
Etwas Kleines bewegte sich im tiefen Schatten des Frachtraums. Ratte , dachte er und drehte sich automatisch um, um nach dem Tier zu treten. Diese Bewegung war seine Rettung; ein schwerer Gegenstand sauste an seinem Kopf vorbei und landete platschend unten im Kielraum.
Er senkte den Kopf und machte einen Satz in die Richtung, aus der die Bewegung gekommen war, die Schultern hochgezogen, um den Schlag abzuwehren, mit dem er rechnete. Es gab keine Fluchtmöglichkeit und nicht viel Platz zum Verstecken. Er sah es wieder, stürzte sich darauf und bekam Stoff zu fassen. Riß fest daran und stieß auf Haut. Ein schnelles Handgemenge im Dunkeln, ein erschrockener Aufschrei, und am Ende hielt er einen Körper fest gegen ein Schott gepreßt und umklammerte das magere Handgelenk von Morag MacKenzie.
»Was zum Teufel?« Sie trat nach ihm und versuchte zu beißen, doch er ignorierte es. Er packte sie fest am Kragen und zerrte sie aus dem Schatten in das gedämpfte, bräunliche Licht des Frachtraums. »Was macht Ihr hier?«
»Nichts! Laßt los! Laßt mich los, bitte! Bitte, ich flehe Euch an, Sir…« Da ihre Kraft nicht ausreichte, um sich zu befreien - sie wog
vielleicht halb soviel wie er -, verlegte sie sich aufs Bitten, und ihre Worte sprudelten in einem halb geflüsterten Strom der Verzweiflung hervor. »Um Eurer eigenen Mutter willen, Sir! Ihr könnt es nicht tun, bitte, ihr könnt nicht zulassen, daß sie ihn umbringen, bitte!«
»Ich werde niemanden umbringen. Um Himmels willen, leiser!« sagte er und rüttelte sie leicht.
Aus dem finstersten Schatten hinter der Ankerkette erklang das hohe, dünne Jammern eines quengeligen Säuglings.
Sie schnappte leise nach Luft und blickte gehetzt zu ihm auf. »Sie werden ihn hören! Gott, Mann, laßt mich zu ihm gehen!« Sie war so verzweifelt, daß es ihr gelang, sich von ihm loszureißen. Sie flüchtete dem Geräusch entgegen und kletterte über die großen, rostigen Glieder der Ankerkette, ohne sich am Schmutz zu stören.
Er folgte ihr, langsamer; sie konnte ja nirgendwo hin. Er fand sie an der dunkelsten Stelle, wo sie an einer der Rippen des Schiffes kauerten, jener riesigen, winkelförmigen Balken, die das Gerüst der Schiffshülle bildeten. Zwischen dem rauhen Holz der Bordwand und den aufgehäuften Massen der Ankerkette war kaum ein halber Meter Platz; sie war nur ein dunklerer Fleck in der stygischen Schwärze.
»Ich tue Euch nichts«, sagte er leise. Der Schatten schien vor ihm zurückzuweichen, doch sie antwortete nicht.
Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit; ein schwacher Lichtschein von der Luke drang sogar bis hier hinten. Ein weißer Fleck - ihre Brust war entblößt, sie stillte das Kind. Er hörte die kleinen, feuchten Geräusche, die es beim Trinken machte.
»Was zum Teufel macht Ihr hier?« fragte er, obwohl er es genau wußte. Sein Magen krampfte sich zusammen, und das nicht nur wegen des fauligen Geruchs aus dem Kielraum. Er hockte sich neben sie und paßte gerade eben in den winzigen Freiraum.
»Ich verstecke mich!« sagte sie heftig. »Das könnt Ihr doch wohl sehen, oder?«
»Ist das Kind krank?«
»Nein!« Sie beugte sich über das Kind und wandte sich von ihm
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