Der Ruf Der Trommel
warmen, runden Schädel behutsam mit einer Hand, ging gebückt ein paar Schritte rückwärts und hielt das Gesicht des Kindes in das Dämmerlicht.
Seine Wangen waren mit rötlichen Pusteln übersät, die weiße Stippchen hatten - für Roger sahen sie genau wie Pocken aus, und er spürte, wie ein Zittern des Abscheus seine Handflächen durchlief. Auch, wenn man immun war, brauchte man Mut, um die Seuche zu berühren und nicht zurückzuschrecken.
Er sah das Kind mit zusammengekniffenen Augen an und löste
dann vorsichtig seine Windeltücher, ohne den gezischten Protest der Mutter zu beachten. Er ließ seine Hand unter die Kleidung des Babys gleiten und spürte zuerst das durchnäßte Tuch, das ihm zwischen den stämmigen Beinchen hing, und dann die glatte, seidige Haut von Brust und Bauch.
Das Kind kam ihm wirklich nicht sehr krank vor; seine Augen waren klar, nicht trübe. Und der winzige Junge schien zwar zu fiebern, doch es war nicht die sengende Hitze, die er in der vergangenen Nacht gespürt hatte. Das Baby jammerte und wand sich, das stimmte, doch es trat mit der ganzen, wütenden Kraft seiner winzigen Glieder um sich, nicht in den schwachen Krämpfen eines sterbenen Kindes.
Die Jüngsten sterben schnell, hatte Claire gesagt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schnell sich eine Seuche ausbreitet, wenn es nichts gibt, womit man sie bekämpfen kann. Die letzte Nacht hatte ihm eine Vorstellung davon vermittelt.
»Gut«, flüsterte er schließlich. »Wahrscheinlich habt Ihr recht.« Er spürte mehr, als daß er es sah, wie sie den Arm sinken ließ - sie hatte den Dolch bereitgehalten.
Vorsichtig gab er ihr das Kind zurück und fühlte dabei eine Mischung aus Erleichterung und Bedauern. Und die erschreckende Erkenntnis der Verantwortung, die er auf sich genommen hatte.
Morag gurrte dem Jungen etwas zu und kuschelte ihn an ihre Brust, während sie ihn hastig wieder einwickelte.
»Süßer Jemmy, aye, bist ein lieber Junge. Psst, Schätzchen, psst, ist ja schon gut, Mami ist ja hier.«
»Wie lange?« flüsterte Roger und legte ihr die Hand auf den Arm. »Wie lange hält sich der Ausschlag, wenn er von der Milch kommt?«
»Vielleicht vier Tage, vielleicht fünf«, flüsterte sie zurück. »Aber es dürfte nur noch zwei dauern, bis sich der Ausschlag verändert - bis er nachläßt. Dann kann jeder sehen, daß es nicht die Pocken sind. Dann kann ich herauskommen.«
Zwei Tage. Wenn es die Pocken waren, würde das Kind bis dahin tot sein. Aber wenn nicht - dann könnte er es vielleicht ganz knapp schaffen. Und sie ebenfalls.
»Könnt Ihr so lange wach bleiben? Die Ratten…«
»Aye, das kann ich«, sagte sie heftig. »Ich kann tun, was ich muß. Dann helft Ihr mir also?«
Er holte tief Luft, ohne den Gestank zu beachten.
»Aye, das tue ich.« Er stand auf und gab ihr die Hand. Sie zögerte einen Augenblick, dann ergriff sie sie und stellte sich ebenfalls hin. Sie war klein; sie reichte ihm kaum bis zur Schulter, und die Hand, die er
in der seinen hielt, war so groß wie eine Kinderhand - im Schatten sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das seine Puppe wiegt.
»Wie alt seid Ihr?« fragte er plötzlich.
Er sah ihre Augen vor Überraschung aufleuchten, dann blitzten ihre Zähne auf.
»Gestern war ich noch zweiundzwanzig«, sagte sie trocken. »Heute bin ich wohl eher hundert.«
Ihre kleine, feuchte Hand befreite sich aus der seinen, und sie verschmolz wieder mit der Dunkelheit.
39
Der Spieler
In der Nacht verstärkte sich der Nebel. In der Morgendämmerung glitt das Schiff in einer Wolke dahin, die so dicht war, daß man von der Reling aus die See nicht sehen konnte, und nur das Rauschen an der Bordwand zeugte davon, daß die Gloriana immer noch im Wasser trieb und nicht in der Luft.
Die Sonne war nicht zu sehen, und es wehte kaum Wind; die Segel hingen schlaff herunter und erzitterten dann und wann in einem vorübergehenden Luftzug. Niedergeschlagen gingen die Männer im Dämmerlicht wie Geister über das Deck und tauchten mit einer Plötzlichkeit aus dem Dunst auf, daß sie sich gegenseitig einen Schrecken einjagten.
Diese Sichtbehinderung kam Roger sehr gelegen; er konnte sich fast ungesehen auf dem Schiff bewegen und unbeobachtet in den Lagerraum schlüpfen, wobei er den kleinen Lebensmittelvorrat, den er von seinen eigenen Mahlzeiten zurückbehalten hatte, in seinem Hemd verbarg.
Der Nebel war auch in den Frachtraum gedrungen; feuchtkalte, weiße Schlieren, die zwischen den Bergen von
Weitere Kostenlose Bücher