Der Ruf Der Trommel
sagte er.
Es war der kleine Gilbert, der Junge mit den wunden Augen - doch die zwei Tage hatten ihn so verändert, daß Roger ihn kaum wiedererkannte. Der Junge war so dünn wie ein Faden, sein rundes Gesicht so eingefallen, daß seine Schädelknochen durchschienen. Auch seine helle, schmutzfleckige Haut war verschwunden, verdrängt von einer Masse eiternder Pusteln, die so dick waren, daß die Augen in dem herunterhängenden Kopf nur noch Schlitze waren.
Es hatte kaum Zeit, den Anblick zu registrieren, bevor andere Hände ihm den kleinen, fiebernden Körper entrissen. Ehe er die plötzliche Leere in seinen Armen begriff, klatschte es an Backbord ein weiteres Mal.
Er drehte sich in einem vergeblichen Reflex zur Reling, die Hände erschrocken zu Fäusten geballt, wandte sich dann aber wieder um, als ein erneuter Aufschrei von der Luke erklang.
Die Passagiere hatten sich von der Überraschung der Attacke erholt. Ein Ansturm von Männern brodelte die Leiter hoch, bewaffnet mit allem, was zu finden war, und stürzte sich auf die Seemänner an Deck, die von der geballten Wut überwältigt wurden.
Jemand prallte donnernd mit Roger zusammen; er stürzte und rollte sich zur Seite, als neben seinem Kopf ein Stuhlbein auf das Deck knallte. Er kam auf Hände und Knie hoch, wurde in die Rippen getreten, scheute zurück und wurde herumgeschubst, rückwärts gegen ein Hindernis gedrückt und stürzte sich in einem günstigen Augenblick auf ein Paar Beine, ohne zu wissen, ob er mit der Besatzung oder einem Passagier kämpfte, denn ihm ging es nur um Platz zum Aufstehen und zum Atmen.
Der Gestank der Krankheit waberte aus dem Frachtraum heraus, ein süßer Verwesungsgeruch, der stärker war als der übliche, scharfe Geruch nach ungewaschenen Körpern und Gülle. Die Laternen schwangen im Wind, und Licht und Schatten schnitten die Szene in Stücke, so daß hier ein schreiendes Gesicht mit wildem Blick auftauchte, dort ein Arm aufragte und hier ein nackter Fuß, um gleich wieder in der Dunkelheit zu verschwinden und sogleich durch Ellbogen und Messer und zuckende Knie ersetzt zu werden, so daß das Deck von knochenlosen Körpern überflutet zu sein schien.
Es herrschte ein solches Durcheinander, daß Roger sich seiner eigenen Glieder beraubt fühlte; er blickte an sich herab, weil sein linker Arm sich taub anfühlte, und erwartete fast, das Glied abgehackt zu sehen. Doch es war an Ort und Stelle, und er hob es instinktiv, um einen vernichtenden Schlag abzuwehren.
Jemand griff ihm in die Haare; er riß sich los und wirbelte herum, stieß einem anderen fest die Ellbogen in die Rippen, wirbelte erneut herum und traf auf Luft. Einen Augenblick lang stand er außer Reichweite des Handgemenges und rang nach Atem. Zwei Gestalten kauerten vor ihm im Schatten der Reling; als er den Kopf schüttelte, um ihn frei zu bekommen, erhob sich die größere und stürzte sich auf ihn.
Die Wucht des Aufpralls ließ ihn zurücktaumeln, und er klammerte sich an den Angreifer. Sie stießen gegen den Vormast und stürzten zusammen hin, dann wälzten sie sich gemeinsam am Boden und hämmerten in blindwütiger Wut aufeinander los. Gefangen in einem Netz aus Lärm und Schlägen achtete er nicht auf die zusammenhanglosen Worte, die ihm ins Ohr gekeucht wurden.
Dann traf ihn ein Stiefel, und noch einer, und als er seinen Gegner losließ, traten zwei Besatzungsmitglieder sie auseinander. Jemand ergriff den anderen Mann und zog ihn hoch, und Roger sah die erhobene Laterne des Bootsmanns aufblitzen, die das Gesicht des hochgewachsenen, blonden Passagiers preisgab - Morag MacKenzies Mann, dessen grüne Augen sie dunkel und wutentbrannt anstarrten.
MacKenzie sah mitgenommen aus - Roger ebenfalls, wie er feststellte, als er sich mit der Hand über das Gesicht fuhr und seine aufgeplatzte Lippe spürte -, doch seine Haut war frei von Eiterbeulen.
»In Ordnung«, sagte Hutchinson kurz, und der Mann wurde ohne Umschweife auf die Luke zu geschubst.
Rogers Kameraden halfen ihm rauh auf die Beine und ließen ihn dann schwankend, benommen und unbeachtet stehen, während sie ihre Arbeit beendeten. Der Widerstand war nur von kurzer Dauer gewesen; die Passagiere waren zwar mit der Wut der Verzweiflung bewaffnet,
doch sechs Wochen unter Deck, Krankheit und Unterernährung hatten sie geschwächt. Die Stärkeren waren in die Unterwerfung geprügelt, die Schwächeren zurückgedrängt worden, und diejenigen, die an den Pocken erkrankt waren…
Roger blickte auf die
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