Der Ruf Der Trommel
allein.
»Du mußt gehen«, flüsterte sie. Die Maske der Gleichgültigkeit war von ihr abgefallen, und ihre Wangen waren feucht. Sie blickte über meine Schulter hinweg auf den Torbogen zum Stallhof. »Bring ihn mir wieder. Du bist die einzige, die ihn wiederbringen kann.«
Sie gab mir einen schallenden Kuß, wandte sich um und lief davon. Der Klang ihrer Schritte hallte auf dem gepflasterten Pfad wider.
Jamie kam durch den Torbogen und sah sie wie eine Todesfee durch das flackernde Licht huschen. Er blieb stehen und blickte ihr mit ausdruckslosem Gesicht nach.
»Du kannst sie nicht so zurücklassen«, sagte ich. Ich wischte mir meinerseits die feuchten Wangen mit einer Ecke meines Schultertuches ab. »Jamie, geh ihr hinterher. Bitte geh und sag ihr wenigstens auf Wiedersehen.«
Er blieb einen Augenblick still stehen, und ich glaubte schon, er würde so tun, als hätte er mich nicht gehört. Doch dann drehte er sich um und ging langsam den Pfad entlang. Die ersten Regentropfen begannen zu fallen. Sie prallten auf das staubige Pflaster, und der Wind blähte beim Gehen seinen Umhang.
»Tante Claire?« Ians Hand lag sanft drängend unter meinem Arm. Ich ging mit ihm und ließ ihn beim Aufsteigen seine Hand unter meinen Fuß halten. Jamie war innerhalb von ein paar Minuten zurück. Er war aufgestiegen, ohne mich anzusehen, hatte Ian einen Wink gegeben und war aus dem Stallhof geritten, ohne sich umzublicken. Ich hatte mich umgeblickt, doch von Brianna war nichts zu sehen.
Die Nacht war schon lange hereingebrochen, und Jamie war immer noch mit Nacognaweto und dem Sachem des Dorfes in dem Langhaus. Jedesmal, wenn jemand in das Haus trat, blickte ich auf, doch nie war es Jamie. Schließlich hob sich jedoch der Ledervorhang über der Eingangstür, und Ian kam herein, gefolgt von einer kleinen, runden Gestalt.
»Ich hab”ne Überraschung für dich, Tante Claire«, sagte er strahlend und trat beiseite, damit ich das lächelnde, runde Gesicht der Sklavin Pollyanne sehen konnte.
Oder besser, der Ex-Sklavin. Denn hier war sie natürlich frei. Grinsend wie eine Kürbislaterne setzte sie sich neben mich und schlug ihren hirschledernen Mantel zurück, um mir den kleinen Jungen in ihrer Armbeuge zu zeigen, dessen rundes Gesicht genauso strahlte wie das ihre.
Mit Ian als Dolmetscher, ihren eigenen Englisch- und Gälischbrokken und dem gelegentlichen Gebrauch weiblicher Zeichensprache
hatten wir uns bald ins Gespräch vertieft. Wie Myers es vorausgesehen hatte, hatten die Tuscarora sie herzlich aufgenommen und sie in ihren Stamm adoptiert, wo man ihre Fähigkeiten als Heilerin sehr schätzte. Sie hatte einen Mann geheiratet, der durch die Masernepidemie seine Frau verloren hatte, und hatte ihm vor ein paar Monaten dieses neue Familienmitglied geschenkt.
Ich war begeistert, daß sie Freiheit und Glück gefunden hatte, und gratulierte ihr herzlich. Außerdem war ich beruhigt; wenn die Tuscarora sie so gut behandelt hatten, dann war es vielleicht ja auch Roger nicht so schlecht ergangen wie befürchtet.
Mir kam ein Gedanke, und ich zog Nayawennes Amulett aus dem Ausschnitt meines Wildlederhemds.
»Ian - kannst du sie fragen, ob sie weiß, wem ich das hier geben soll?«
Er sprach sie in der Tuscarorasprache an, und sie beugte sich vor und befühlte das Amulett neugierig, während sie sprach. Schließlich schüttelte sie den Kopf, lehnte sich zurück und antwortete ihm mit ihrer seltsam tiefen Stimme.
»Sie sagt, sie werden es nicht wollen, Tante Claire«, übersetzte Ian. »Es ist das Medizinbündel einer Shaman , und es ist gefährlich. Man hätte es zusammen mit seiner Besitzerin bestatten sollen; niemand hier wird es anrühren aus Angst, den Geist der Shaman herbeizulocken.«
Ich zögerte und hielt das Ledertäschchen in der Hand. Das seltsame Gefühl, etwas Lebendiges zu berühren, war seit Nayawennes Tod nicht mehr da. Es war bestimmt nur meine Phantasie gewesen, die sich in meiner Hand zu bewegen schien.
»Frag sie - was, wenn die Shaman nicht beerdigt worden ist? Wenn man ihre Leiche nicht finden konnte?«
Pollyanne hörte mit ernstem Gesicht zu. Als Ian fertig war, schüttelte sie den Kopf und antwortete.
»Sie sagt, daß in diesem Fall der Geist immer bei dir ist, Tante Claire. Sie sagt, du solltest es hier niemandem zeigen - es wird ihnen angst machen.«
»Aber sie hat keine Angst, oder?« Das verstand Pollyanne selbst; sie schüttelte den Kopf und berührte ihre massive Brust.
»Indianerin jetzt«,
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