Der Ruf Der Trommel
sagte sie einfach. »Nicht immer.« Sie wandte sich an Ian und erklärte durch ihn, daß ihr eigenes Volk die Geister der Toten ehrte; daß es sogar keinesfalls ungewöhnlich war, wenn ein Mann den Kopf oder einen anderen Körperteil seines Großvaters oder eines anderen Vorfahren aufbewahrte, um sich dort Schutz und
Rat zu holen. Nein, der Gedanke, daß mich ein Geist begleitete, beunruhigte sie nicht.
Und auch mich beunruhigte die Vorstellung nicht. Ganz im Gegenteil, unter den gegenwärtigen Umständen fand ich den Gedanken, daß Nayawenne bei mir war, außerordentlich tröstlich. Ich steckte das Amulett in mein Hemd zurück. Es strich sanft und warm über meine Haut, wie die Berührung einer Freundin.
Wir unterhielten uns noch, als die anderen in dem Langhaus schon lange in ihre abgeteilten Räume gegangen waren und Schnarchgeräusche die verräucherte Luft erfüllten. Schließlich überraschte uns Jamies Ankunft, die von einem kalten Luftzug begleitet wurde.
Als Pollyanne sich verabschiedete, zögerte sie. Offensichtlich versuchte sie, sich zu entscheiden, ob sie mir etwas sagen sollte. Sie warf Jamie einen Blick zu, dann zuckte sie mit ihren massigen Schultern und faßte ihren Entschluß. Sie beugte sich ganz dicht zu Ian hinüber und murmelte etwas, das sich anhörte, wie wenn Honig über einen Felsen sickert, wobei sie beide Hände vor ihr Gesicht hielt und mit den Fingerspitzen ihre Haut berührte. Dann umarmte sie mich rasch und ging.
Ian starrte ihr verblüfft hinterher.
»Was hat sie gesagt, Ian?«
Er wandte sich wieder zu mir, seine schwach sichtbaren Augenbrauen sorgenvoll zusammengezogen.
»Sie sagt, ich soll Onkel Jamie erzählen, daß sie in der Nacht, als die Frau in der Sägemühle gestorben ist, einen Mann gesehen hat.«
»Was für einen Mann?«
Er schüttelte immer noch stirnrunzelnd den Kopf.
»Sie kannte ihn nicht. Nur, daß es ein Weißer war, schwer und untersetzt, nicht so groß wie Onkel Jamie oder ich. Sie hat gesehen, wie er aus der Mühle gekommen und in den Wald gegangen ist. Sie hat im Dunkeln in ihrem Hütteneingang gesessen, also glaubt sie nicht, daß er sie gesehen hat - aber er ist so nah am Feuer vorbeigekommen, daß sie sein Gesicht gesehen hat. Sie sagt, er hatte Pockennarben« - an dieser Stelle hielt er die Fingerspitzen an sein Gesicht, so wie sie es getan hatte - »und ein Gesicht wie ein Schwein.«
»Murchison?« Mein Herzschlag setzte einmal aus.
»Hatte der Mann eine Uniform an?« fragte Jamie stirnrunzelnd.
»Nein. Aber sie wollte wissen, was er da gemacht hatte; er war keiner der Plantagenbesitzer und auch keiner der Arbeiter oder Aufseher. Also hat sie sich zur Mühle geschlichen, um nachzusehen, aber als sie den Kopf hineinsteckte, hat sie gewußt, daß etwas Schlimmes passiert
war. Sie hat gesagt, sie hat Blut gerochen, und dann hat sie Stimmen gehört, also ist sie nicht hineingegangen.«
Also war es Mord gewesen, und Jamie und ich waren nur um Sekunden zu spät gekommen, um ihn zu verhindern. In dem Langhaus war es warm, doch mir wurde kalt bei der Erinnerung an die dicke, blutige Luft in der Sägemühle und einen harten Küchenspieß in meiner Hand.
Jamies Hand senkte sich auf meine Schulter. Ohne zu überlegen langte ich hoch und ergriff sie. Sie fühlte sich gut in der meinen an, und mir wurde bewußt, daß wir einander seit fast einem Monat nicht mehr freiwillig berührt hatten.
»Das tote Mädchen hat als Wäscherin bei der Armee gearbeitet«, sagte er. »Murchison hat in England eine Frau; ich schätze, eine schwangere Geliebte wäre ihm ziemlich ungelegen gekommen.«
»Kein Wunder, daß er so ein Theater um die Jagd nach dem Verantwortlichen gemacht hat - und sich dann auf die arme Frau da gestürzt hat, die nicht für sich selbst sprechen konnte.« Ians Gesicht war vor Empörung gerötet. »Wenn er sie dafür hätte hängen lassen können, dann hätte er sich in Sicherheit wiegen können, der hinterlistige Mistkerl.«
»Vielleicht statte ich dem Sergeant nach unserer Rückkehr einen Besuch ab«, sagte Jamie. »Unter vier Augen.«
Der Gedanke ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Seine Stimme war leise und gleichmütig, und sein Gesicht war ruhig, als ich mich umdrehte, um es anzusehen. Doch mir kam es vor, als sähe ich das Spiegelbild eines dunklen, schottischen Gewässers in seinen Augen, dessen Oberfläche sich kräuselte, als sei gerade etwas Schweres darin versunken.
»Meinst du nicht, daß du im Augenblick schon genug Rache
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