Der Ruf Der Trommel
viele Piraten?« Ian hatte es auch gesehen; er war viel zu alt, um mich noch bei der Hand zu nehmen, stellte sich aber dicht neben mich. Unter der Sonnenbräune war sein Gesicht blaß.
»Nicht sehr viele, jetzt nicht mehr. Die Marine hält sie ganz gut unter Kontrolle. Aber noch vor ein paar Jahren konnte man hier oft vier oder fünf Piraten auf einmal sehen. Die Leute haben dafür bezahlt, mit dem Boot herauszufahren und ihnen beim Ertrinken zuzuschauen. Ganz hübsch hier, wenn die Flut bei Sonnenuntergang kommt«, sagte er, und seine Kinnbacken bewegten sich in einem langsamen, nostalgischen Rhythmus. »Dann wird das Wasser ganz rot.«
»Da!« Ian vergaß sich und klammerte sich an meinen Arm. Irgend etwas bewegte sich nah am Ufer, und dann sahen wir, was die Vögel verjagt hatte.
Es glitt ins Wasser, ein langer, schuppiger Körper, vielleicht anderthalb oder zwei Meter lang, der eine tiefe Furche im weichen Uferschlamm hinterließ. Am anderen Ende des Schiffes murmelte der Matrose etwas, ohne jedoch seinen Staken loszulassen.
»Es ist ein Krokodil«, sagte Fergus und machte angewidert das Zeichen gegen das Böse.
»Nein, das glaube ich nicht.« Jamies Stimme erklang hinter mir, und als ich mich umdrehte, sah ich, daß er über das Kabinendach hinweg auf den reglosen Körper im Wasser und die V-förmige Welle blickte, die sich darauf zubewegte. Er hielt ein Buch in der Hand, den Daumen als Lesezeichen zwischen die Seiten gesteckt, und senkte jetzt den Kopf, um den Band zu konsultieren.
»Ich glaube, es ist ein Alligator. Sie ernähren sich von Aas, heißt es hier, und sie fressen kein frisches Fleisch. Wenn sie einen Menschen oder ein Schaf erlegen, ziehen sie das Opfer unter Wasser, um es zu ertränken, schleppen es dann aber in ihre unterirdische Höhle und lassen es dort liegen, bis es so weit verrottet ist, daß es ihnen schmeckt. Natürlich«, fügte er mit einem finsteren Blick zum Ufer hinzu, »haben sie manchmal das Glück, eine fertige Mahlzeit vorzufinden.«
Der Körper am Pfosten schien kurz zu erzittern, als etwas von unten dagegen stieß, und Ian machte hinter mir ein leises Würgegeräusch.
»Wo hast du denn das Buch her?« fragte ich, ohne dabei den Pfosten aus den Augen zu lassen. Der obere Teil des Holzpflockes vibrierte, als machte sich etwas unter Wasser daran zu schaffen. Dann stand der Pfosten wieder reglos da, und die V-förmige Kielwelle war wieder zu sehen, diesmal in Richtung Ufer. Ich wandte mich ab, bevor es aus dem Wasser kam.
Jamie gab mir das Buch, ohne den Blick von der schwarzen Schlammbank und dem kreischenden Vogelschwarm abzuwenden.
»Der Gouverneur hat es mir gegeben. Er meinte, es könnte auf unserer Reise von Interesse sein.«
Ich blickte auf das Buch herunter. Es war in schlichtes Buckram gebunden, und der Titel war mit Blattgold auf den Rücken geprägt - Naturkunde North Carolinas.
»Uch!« sagte Ian neben mir. Er beobachtete entsetzt die Szene am Ufer. »Das ist das Schrecklichste, was ich je -«
»Von Interesse«, wiederholte ich, den Blick immer noch fest auf das Buch gerichtet. »Ja, das wird wohl so sein.«
Fergus, dem jede Zimperlichkeit fremd war, beobachtete interessiert, wie der Alligator die Schlammbank emporkroch.
»Ein Alligator, sagt Ihr? Das ist aber doch mehr oder weniger dasselbe wie ein Krokodil, oder nicht?«
»Ja«, sagte ich und erschauderte trotz der Hitze. Ich wandte mich vom Ufer ab. Ich war auf den Westindischen Inseln einem Krokodil aus nächster Nähe begegnet, und ich war nicht erpicht darauf, die Beziehung jetzt mit einem Verwandten zu vertiefen.
Fergus wischte sich den Schweiß von der Oberlippe, und seine dunklen Augen hingen gebannt an der Szene des Grauens.
»Dr. Stern hat Milord und mir einmal von den Reisen eines Franzosen namens Sonnini erzählt, der Ägypten besucht und viel über die Sehenswürdigkeiten geschrieben hat und über die Gebräuche, von denen er hörte. Er sagte, in diesem Land paaren sich die Krokodile an den schlammigen Flußufern. Dabei liegt das Weibchen auf dem Rücken, und es ist in dieser Position nicht in der Lage, sich ohne die Hilfe des Männchens wieder aufzurichten.«
»Oh, aye?« Ian war ganz Ohr.
»Ja, genau. Er sagte, manchmal nutzen die Männer dort, von den Impulsen des Entzugs getrieben, die Zwangslage des Weibchens aus, verjagen das Männchen und nehmen dann selbst seine Stelle ein
und genießen die unmenschliche Umarmung des Reptils. Es soll ein machtvolles Zaubermittel sein, wenn man
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