Der Ruf Der Walkueren
können? Die Gefahr, die sie spürte, war so nebulös, so ungreifbar, dass sie ihr selbst beinahe wie Einbildung vorkam. Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust. Es tat gut, sich bei ihm anzulehnen. Es tat gut zu wissen, dass sie Macht über ihn hatte, wenn sie sich bei ihm anlehnte, dass ihre Schwäche Macht über seine Stärke besaß. Er hatte ihr vergeben, nicht wahr? Er liebte sie. Beinahe war sie jetzt sicher, dass Brünhild niemals Einfluss auf sein Denken und Fühlen erlangen konnte. Ja, es würde alles gut werden!
2
Myriaden von Löwenzahnsamen trieben über die Wiese. Insekten bevölkerten die Luft, vielstimmiger Vogelgesang kündete vom nahenden Sommer. Es war eine erfolgreiche Jagd gewesen. Unfreie eilten umher, um die erlegten Tiere auszuweiden und den Rücktransport vorzubereiten. Die lagernden Krieger wurden von Durst geplagt, denn Hagen hatte dafür gesorgt, dass das Essen vor ihrem Aufbruch gut gesalzen war. Irung murrte, als er erfuhr, dass jemand vergessen hatte, Getränke mitzunehmen, und Sigfrid stimmte ihm zu.
»Ich weiß eine Quelle, nicht weit von hier«, ließ Hagen sich vernehmen. »Sie liegt an einem Weiher, etwa eine römische Meile diesen Pfad entlang.«
»Worauf warten wir noch?«, fragte der Sachse und sprang auf.
»Wie wär’s mit einem Wettlauf dorthin?«
Wie erwartet nahm Sigfrid die Herausforderung an. »Wer zuletzt ankommt, muss heute Abend mit Volker in Sangeswettstreit treten.«
Ansgar lachte; jedermann wusste, dass Hagen kaum mehr als ein unmelodisches Krächzen hervorbrachte.
Die Kontrahenten legten Schwerter und Waffenröcke ab. Hagen sorgte dafür, dass alle Krieger zugegen waren und sahen, dass er keine Waffen bei sich trug. Die beiden nackten Männer standen sich gegenüber. Jeder konnte sehen, wie ungleich sie waren, Hagen mit seinem hageren, narbenüberzogenen Körper, einäugig, finster, und Sigfrid, dessen hürnene Haut ohne Kratzer war, selbstsicher und strahlend. Einen Atemzug lang maßen sie sich mit den Augen, dann stellten sie sich nebeneinander auf.
Gunter war unbehaglich zumute. Hagen hatte ihn nicht eingeweiht, aber er begriff, dass dies hier zu einem Plan gehören musste. Der Waffenmeister tat nichts ohne einen triftigen Grund. Die Krieger sahen ihn an, und der König begriff, dass er das Zeichen geben musste. Er hob die Hand. Für einen Moment dachte er an Grimhild. Was immer sie Sigfrid antaten, würde auch sie treffen. Dann erinnerte er sich an Brünhilds schmerzverzerrtes Gesicht, und entschlossen ließ er die Hand fallen.
Die beiden Männer liefen los. Unter beifälligem Johlen der Zuschauer sprangen sie über Wurzeln und Steine den Pfad entlang. Sofort setzte sich Sigfrid an die Spitze. Wenngleich Hagen um jeden Fußbreit Boden kämpfte, ließ der Sachse ihn schnell hinter sich. Er war in Wäldern groß geworden, er wusste, wie man sich darin bewegte.
Sobald das Lager außer Sicht war, ließ Hagen sich zurückfallen. Dann, als Sigfrid nicht mehr zu sehen war, wandte er sich nach links und nahm eine Abkürzung, die ihn vor dem Sachsen ans Ziel bringen würde. Er verschloss seine Seele vor seinen Gefühlen. Was jetzt kam, war nichts, womit er jemals prahlen würde. Es war das blutige Schlachten eines Raubtieres, das Schaden angerichtet hatte. Ein Opfer, das den Göttern dargebracht werden musste, um den Frieden in Gunters Sippe zu erhalten. Seine Seele war ohnehin verloren, schon seit seiner Geburt. Das Kind eines Schwarzalben und einer Fränkin. Das Halbblut, das die Alben verachteten und die Menschen fürchteten. Was machte es, ob er noch tiefer in den Sumpf der Schande sank? Was machte es, wenn die anderen ihn aus ihrer Gemeinschaft ausstießen? Er war schon immer ohne Sippe gewesen, ein Wolf, friedlos. Nur Aldrians Sippe hatte ihm ihren Frieden gegeben. Und für Aldrians Sippe würde er ohne zu zögern in den Tod gehen.
Der Wald umfing Sigfrid. Der Sachse fühlte sich, als wäre er zu Hause. Es tat gut, der betriebsamen Burg der Franken für eine Weile zu entkommen. Aus lauter Übermut stieß er einen Schrei aus und lachte, als die Geräusche des Waldes für einen Augenblick verstummten. Sein Körper jauchzte vor Vergnügen, sein Lauf hatte immer weniger Gehetztes an sich. Schritt um Schritt fügte er sich in die Harmonie des Grünen Reiches ein und verwuchs mit dem Moos, den Bäumen, den Farnen. Eichenspinner hatten den Wald mit einem Vorhang aus Seidenfäden durchzogen, ein üppiger Geruch von Erde und Kräutern hing in der Luft. Überall
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