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Der Ruf Der Walkueren

Der Ruf Der Walkueren

Titel: Der Ruf Der Walkueren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Kunz
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hören!«
    Es war, als seien seine Sinne geschärft worden. Mit einem Mal vernahm er das Rascheln der Raupen, die sich in den Wipfeln der Eichen durch die Blätter fraßen, und das wollüstige Stöhnen der Gräser, die sich reckten und in die Höhe wuchsen, und da waren drei zwitschernde Meisen, und er verstand ihre Sprache.
    »Warum hast du Hala einen Namen geschenkt?«, wollte die Dryade wissen.
    »Ich wollte ihre Seele unsterblich machen. Ich liebte sie. Aber sie hat trotzdem nicht für mich getanzt«, fügte er traurig hinzu.
    Ihr Gesicht hellte sich auf. »Möchtest du, dass ich für dich tanze?«
    »Würdest du das tun?«, entgegnete er. Jedenfalls dachte er, dass er es entgegnete. Seine Stimme war nur noch der Schatten eines Hauches.
    Sie schien ihn trotzdem verstanden zu haben, denn sie fing an, sich zur Musik des Waldes zu bewegen. Jede Drehung, jeder Schritt war von überirdischer Schönheit. Wieder spürte er das Berückende ihres Wesens, die Anziehung, die ihr sinnbetörender Reigen auf ihn ausübte. Selbst die Bäume lauschten hingerissen, und Büsche und Farne hielten den Atem an. Sie tanzte aus keinem anderen Grund, als um sich lustvoll zu bewegen. Ein ringförmiger Kreis von Pilzen wuchs zu ihren Füßen, ihr Tanz war reine Fruchtbarkeit. Ich glaubte, kein Menschenauge darf euren Tanz sehen , dachte er, ich glaubte, wer euch dabei beobachtet, muss sterben. Und das Begreifen kam erst später, viel später.
    Er hätte den ganzen Hort des Stillen Volkes hingegeben, wäre es ihm vergönnt gewesen, sie noch einmal tanzen zu sehen, nur noch ein einziges Mal. Doch das Leben sickerte durch seine Hände, und er konnte es nicht aufhalten. Sein megin lief mitsamt seinem Blut aus, in den Schoß des Waldes. Das erfüllte ihn mit unbeschreiblicher Freude. Er konnte fühlen, wie die Erde ihn aufsaugte, sein megin dem ungleich größeren, mächtigeren megin des Waldes hinzufügte und den Misston seines zitternden Herzschlages anpasste, bis er genau hierhin gehörte. Er würde eins sein mit dem Wald.
    Der Tanz der Dryade war die Ekstase des Lebens: Werden und Vergehen, Werden und Vergehen. Jetzt, jetzt begriff Sigfrid das Geheimnis des Daseins, plötzlich wusste er genau, was Wodan seinem toten Sohn ins Ohr geflüstert hatte, aber es war zu spät, zu spät, er würde dieses köstliche Geheimnis niemals weitergeben können. Doch in ihm brannte die Ekstase des Asen, und dieses Mal war der Gott der Lust und der Gott der Toten ein und dasselbe.
    Das Licht wurde dunkler, flackernder. Die Dryade war wie eine Silhouette vor dem Hintergrund des Waldes. Küss mich , dachte er. Küss mich auf den Mund. Ich möchte dir verfallen. Ihre zarte Gestalt, die im Rausch der Ekstase tanzte, war das Letzte, was er sah. Er lächelte, bis seine Augen brachen.

Andvaranaut
1
    Die Stille der heimkehrenden Jäger war alarmierender als Rufen und Schreien. Die Einwohner der Burg begriffen, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Oda sah den Zug vom Fenster aus und erkannte mit einem Blick, wer nicht mit den anderen ritt. Sie drehte sich zu ihrer Tochter um, die leichenblass geworden und aufgesprungen war, und versuchte, sie zurückzuhalten, aber sie war schon auf dem Weg nach draußen.
    Kurz bevor sie die schweigende Prozession erreichte, verlangsamten sich Grimhilds Schritte. Einige Männer starrten sie an, doch die meisten mieden ihren Blick. »Wo ist Sigfrid?«, fragte sie, als wüsste ihr Herz nicht längst die Antwort. Niemand sagte etwas, aber der eine oder andere schielte zu dem Karren, der für das erlegte Wild bestimmt war. Langsam umrundete sie den Wagen. Die Kadaver der Tiere waren am Rand übereinandergeworfen worden, um Platz zu lassen für einen in blutige Leinen gewickelten Körper. Eine blonde Locke quoll unter dem Stoff hervor. Zögernd griff sie nach einem Zipfel des Tuches und verharrte in der Bewegung, um gegen ein Schwindelgefühl anzukämpfen. Dann schlug sie das Tuch mit einem Ruck zurück.
    Es gab Schmerzen, gegen die man sich nicht wappnen konnte. Fassungslos sah Grimhild das lächelnde Gesicht, das sie mehr als alles auf der Welt liebte, von verkrustetem Blut entstellt. Die Haare waren blutverklebt, die Wangen blutbeschmiert, die Kleider blutdurchtränkt, Blut überall. Eine Art Taubheit kroch in ihr hoch und breitete sich in ihr aus. In Grimhild war eine große Stille. Sie betrachtete den Leichnam von oben bis unten, als wolle sie sich überzeugen, dass niemand einen grausigen Streich mit ihr spielte. Dann

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