Der Ruf Der Walkueren
nicht beachtet hatte, weil er ein Kind war, das sich unsterblich glaubte. Plötzlich wurde ihm so vieles klar, was er vorher übersehen hatte. Wie einfach schien es ihm auf einmal, begangene Fehler zu korrigieren! Wie leicht sich die Fäden zu einem harmonischen Ganzen verweben ließen, wenn man den Blick von außen darauf richtete! Er wollte alles anders machen, noch einmal von vorn anfangen, und dann begriff er, dass er das nicht mehr konnte.
Die Sonne blendete ihn. Auch der Geruch des Waldes kam ihm würziger vor, als er in Erinnerung hatte. Und dann die Farben … Hatte er je bemerkt, dass ein einziges Blatt von zahllosen Adern durchzogen wurde, die unaufhörlich das megin des Lebens hindurchpumpten? Eine Träne rann aus seinem Auge. Er verspürte eine unbeschreibliche Sehnsucht, die ihm schier die Brust sprengte. Nie wieder! Nie wieder würde er etwas so Wunderschönes sehen dürfen wie einen Regenbogen oder das Leuchten in Grimhilds Augen. Nie wieder würde er den süßen Druck ihrer Lippen fühlen. Niemals mehr würde er einen neuen Tag riechen oder die pure Lust am Leben auf seiner Zunge schmecken. Der Ring pulsierte jetzt im Gleichklang mit seinem Herzen. Vergessen, verlieren, wisperte er aus einem für Sigfrid unerfindlichen Grund. Verändern, verwandeln. Weißt du noch?
Mit einem Mal war es ganz einfach, den Kreis seines Bewusstseins zu erweitern und das, was bislang knapp außerhalb gelegen und auf ihn gewartet hatte, hereinzuholen. Ein Geruch nach Kiefernharz. Ich werde mich deiner würdig erweisen. Wie hatte er das nur vergessen können? Langsam lösten sich die Mauern in seinem Verstand auf, und endlich erkannte er das Gesicht der Walküre hinter der Waberlohe. Zornig funkelnde braune Augen. Ein Versprechen, gegeben im Angesicht Frijas. Welch ein Quell der Freude waren seine Erinnerungen, welche Qual! Er wollte einen Namen sprechen, doch er brachte ihn nicht über die Lippen. Er wünschte, es wäre ihm vergönnt, ihr alles zu erklären, ihr Trost zu schenken, es tat ihm weh, dass sie glauben musste, er hätte sie verraten. Obwohl er begriff, dass sie seinen Tod befohlen hatte, empfand er keinen Zorn. Ebenso wenig wie auf Grimhild, deren Rolle im Gewebe der Nornen ihm ebenfalls klar wurde. Und dann, so abrupt, wie der Strom der Gedanken über ihn hereingebrochen war, versiegte er auch wieder, weil Sigfrid erkannte, dass es nicht wichtig war.
Das war der Moment, da er den Wald raunen hörte. Dieses Mal wurde er nicht abgelenkt, und es gelang ihm, dem Murmeln zu folgen, bis er die Muster verstand, die der Hain wob. Plötzlich begriff er, was Hala gemeint hatte, als sie von der Musik des Waldes sprach. Ein Lächeln durchbrach seine blutigen Lippen. Die Musik war da, ganz nah, beinahe in Reichweite seiner Sinne.
Und mit ihr kam etwas anderes. Er hielt den Atem an, als er die weichen Schritte hinter sich vernahm. Eine zarte Hand strich ihm durch die Locken wie ein Windhauch. »Sonnenhaar«, flüsterte eine Stimme.
»Hala!«, hauchte er. Seine Augen leuchteten, als sie leichtfüßig in sein Blickfeld trat und sich ihm in ihrer zerbrechlichen Schönheit offenbarte – nicht nebulös wie damals, im Wald hinter Mimes Haus, sondern klar und zum Greifen nah.
»Hala? So etwas bin ich nicht. Was ist eine Hala?«
»Eine wie du. Ich schenkte ihr diesen Namen«, erwiderte er und hustete Blut. Das Amulett rutschte ihm von der Brust. Schwerfällig griff er danach. Betrachtete es. Riss es sich mit letzter Kraft vom Hals. Er fühlte sich betrogen. »Ich dachte, Wodan sei auf meiner Seite«, keuchte er.
Die Baumnymphe sah ihn mitleidig an. »Die Götter sind auf niemandes Seite, außer auf ihrer eigenen.«
Sigfrid schleuderte das Amulett fort. Er hatte Wodan vertraut, und der Wüter hatte ihn verraten. Verraten! Doch als er so dalag, zornig und verbittert, wurde ihm bewusst, dass seine Einschätzung nur von einem kleinmütigen Blickwinkel aus zutraf. Er war getäuscht worden – aber war er mit dieser reinen Flamme des Vertrauens in seinem Herzen nicht glücklicher gewesen, als jemand, den keiner betrügen konnte, weil er von Misstrauen vergiftet durch die Welt schritt?
Und dann war auch diese Sorge nichtig, das Leuchten des Ringes sank zu einem feinen Glimmen herab, der Zorn verschwand. Sigfrids Herz schlug flatternd und unregelmäßig, aber der Herzschlag des Waldes war dunkel und kräftig, wie eine Trommel. Leidenschaftlich. Ekstatisch. »Musik!«, flüsterte Sigfrid glücklich. »Endlich kann ich sie
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