Der Ruf Der Walkueren
war es licht und heiter, weil sich das Blätterdach noch nicht geschlossen hatte. Dann hörte Sigfrid die Quelle murmeln und folgte ihrem Flüstern.
Hagen erreichte den Weiher als Erster. Wasserlinsen bedeckten einen Teil der Oberfläche, das jenseitige Ufer wurde von Schilf und Rohrkolben gesäumt, hier und da fanden sich gelbe Sumpfschwertlilien. Über dem Wasser standen prächtig gefärbte Libellen reglos in der Luft. Hagen hatte kein Auge für die friedliche Schönheit des Teiches. In einem hohlen Baum fand er den Ger, den er am Tag zuvor dort versteckt hatte, und prüfte noch einmal dessen Balance. Sein Blick glitt zum Weiher. Die Stelle, von der aus man am leichtesten aus der Quelle trinken konnte, war gut einsehbar. Keine Zweige oder Äste am Boden, die verräterisch knacken mochten.
Wachsam sah sich der Waffenmeister um. Sein Nacken kribbelte. Er fühlte sich beobachtet. Leichter Wind strich durch die Zweige, doch davon abgesehen, war nichts zu entdecken. Es musste eine Täuschung sein. Nervosität. Hagen zuckte die Achseln und verbarg sich hinter einem Busch, ohne das unbehagliche Gefühl losgeworden zu sein.
Dort stand er, als sein Opfer kam. Sigfrid trat auf die von Gänseblümchen übersäte Lichtung, sah sich nach seinem Rivalen um und lachte, als er ihn nirgends erblicken konnte. Wie ein Kind freute er sich über seinen Sieg. Das Laufen hatte ihn noch durstiger gemacht, deshalb kniete er an einem von Flechten überzogenen Felsen am Rand des Weihers nieder, beugte sich dort, wo die Quelle aus dem Gestein sprudelte, hinab und tauchte sein Gesicht in die zu einer Schale geformten Hände. Das Wasser erfrischte seine erhitzte Haut und seine Kehle gleichermaßen.
Lautlos trat Hagen aus dem Gebüsch. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass er fünf Schritte brauchte für einen sicheren Stoß. Oft genug hatte er es geprobt. Während er auf Sigfrid zuging und den Ger in der Hand wog, hielt er Ausschau nach dem Punkt, von dem jedermann wusste, dass er die Achillesferse des Sachsen war. Dem Punkt, an dem dieser sich während des Blutschwurs geritzt hatte. Der Waffenmeister stand nun direkt hinter seinem Opfer, sorgfältig die Richtung seines Schattens berücksichtigend. Zwischen Sigfrids Schulterblättern schimmerte die Haut rosiger als am übrigen Körper. Er konnte die Stelle nicht verfehlen. Hagens Hand zitterte nicht, als er den Speer hob.
Ein Instinkt veranlasste Sigfrid, sich umzudrehen, doch ehe er den Vorsatz ausführen konnte, hatte ihm der Waffenmeister den Ger mit beiden Händen zwischen die Schulterblätter gestoßen. Blut spritzte. Hagen ließ die Waffe nicht los; mit seinem ganzen Gewicht trieb er die Spitze in Sigfrids Leib. Erst, als die hürnene Haut der Brust den Stoß stoppte, gab er den Ger keuchend frei.
Vergeblich versuchte Sigfrid, den Schaft in seinem Rücken mit den Händen zu erreichen. In einem grotesken Tanz drehte er sich immer wieder um seine eigene Achse. Mit grausiger Faszination verfolgte Hagen die schaurigen Bewegungen. Endlich brach der Sachse zusammen. Ihre Blicke trafen sich. Sigfrids verständnislose Augen verfingen sich in denen seines Mörders. »Warum?« Blut quoll aus seinem Mund und formte filigrane Muster auf Kinn und Wange.
Hagen verspürte den Wunsch, sich zu rechtfertigen, aber es gab keine Rechtfertigung, deshalb wandte er sich ab und entfernte sich mit hölzernen Bewegungen. Er fühlte keinen Triumph, nur das Mitleid eines Jägers mit einem sterbenden Hirsch. Er hatte getan, was nötig war, aber er würde sich nicht auch noch daran weiden, wie der Sachse starb. Bis er das Lager erreicht hatte, »um Hilfe zu holen«, würde Sigfrid verendet sein. Wie ein erlegtes Tier. Während er den Pfad entlangstolperte, vernahm Hagen ein Wimmern, das sich zu immer lauterem Schluchzen steigerte, doch es dauerte lange, bis er erkannte, dass er selbst es war, der die Geräusche von sich gab.
Die Gänseblümchen färbten sich rot. Sigfrid roch ihren süßen Duft, während er immer tiefer zwischen ihre Stängel sank. Dann lag er auf dem Rücken, den Kopf von der aus seinem Nacken ragenden Stange aufrecht gehalten, und starrte mit offenen Augen in den Himmel. Die blaue Lichtung zwischen den Baumkronen schien sich zu erweitern. Der goldene Ring an seinem Arm glühte hell wie nie zuvor, als sauge er sich mit Lebensenergie voll.
Bilder wirbelten vorbei. Eine zärtliche Geste, eine achtlose Bemerkung, ein respektvoller Blick. Er entdeckte kleine Dinge, die er bislang
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