Der Ruf Der Walkueren
der Erde. Dies waren die Spulen, die das Webmaterial enthielten. Der Rahmen des Webstuhls bestand aus Speeren, der Kamm, der zum Anschlagen der Schussfäden diente, aus Pfeilen und die Gewichte an den unteren Enden der Kettfäden aus Menschenschädeln. Am Entsetzlichsten aber war das Gewebe: Es bestand aus menschlichen Gedärmen.
Der galdr , der Zaubergesang, der ihre Arbeit begleitete, entstand durch das Rasseln der Runenstäbe, das Klappern gegeneinanderstoßender Totenschädel und die Stimmen der drei Frauen: das Brummen der einen, die das fertige Gewebe begutachtete, die Verse der Frau am Webstuhl und die Schnalzlaute der dritten. Obwohl jede für sich allein zu singen schien, bildeten ihre Töne ein Muster, das sich zu einem Lied verdichtete.
Dies waren die Nornen, die das Schicksal der Welt woben, Töchter der Riesen, deren Spruch selbst die Götter unterworfen waren. Die Frau, die das Tuch studierte, war die älteste. Das ärmellose Gewand, das sie trug, war so zerschlissen wie sie selbst, ihre pergamentene Haut hing schlaff an ihr herunter, ihr Haar bestand nur noch aus wenigen Strähnen. Dies musste Urd sein, die alles Vergangene kannte. Die Norne am Webstuhl war nicht ganz so alt, dafür aber wohlbeleibt. Tränensäcke hingen unter ihren Augen, ihr Schädel war so kahl wie die Häupter an ihrem Webstuhl. Unzweifelhaft war dies Verdandi, die die Gegenwart wirkte. Dann musste die letzte Skuld sein, die um die Zukunft wusste. Sie war die jüngste der drei, dürr, groß, mit spitzer Nase und spitzem Kinn. Die Finger, die die Runenhölzchen warfen, besaßen scharfe Nägel, die zu furchtbaren Krallen gebogen waren.
Als Hagen es am wenigsten erwartete, hob Verdandi plötzlich den Blick und sah ihm direkt in die Augen. Hagen fühlte sich bis auf die Knochen entblößt. » År ok friðr, Hagu !«, sagte die Norne.
Der Waffenmeister trat aus Yggdrasils Schatten. Sprechen konnte er nicht, seine Zunge war wie gelähmt. Auch Urd hatte sich zu ihm umgedreht und musterte ihn interessiert. Nur Skuld ließ sich nicht stören; sie weidete ein Eichhörnchen aus, um aus seinen Innereien zu lesen. Als sie schließlich doch ihren Blick hob, wünschte Hagen, sie hätte es nicht getan. Die Eiseskälte darin machte ihn frieren. »Könnt ihr sehen, was vor uns liegt?«, fragte er mit einem Mut, den er nicht empfand. »Wisst ihr um die Nächte, die kommen werden?«
Skuld lachte meckernd und gab ihm das Gefühl, ein Narr zu sein.
»Seit Ymirs Tagen
lenken wir, weben wir,
Götterschicksal,
Männergeschick,
in allen neun Welten
bis hin zur Wolfszeit.
Vielwissende,
so nennt man uns«,
sang Verdandi, während sie durch Betätigen eines Trittes ein neues Fach bildete und mit ihrem Zeigefinger das Webschiffchen durch das Gewebe aus Menschendärmen stieß. Mühelos glitt es hindurch, beschrieb eine Kurve und zog einen Faden hinter sich her. Mit entschiedenem Ruck schlug die Norne die Blattlade mit dem Webkamm aus Pfeilen nach oben, führte sie zurück und öffnete das nächste Fach. Und jede ihrer Bewegungen entschied über Wohl und Wehe der Menschen.
»Niemand begehre zu wissen, was die Nornen bestimmt haben«, krächzte Skuld.
Vor und zurück bewegten sich die Schäfte, auf und nieder die Blattlade. Das pulsierende Gleichmaß der Webbewegungen brachte Hagen unter einen Bann, von dem er sich nicht losreißen konnte. Es war der Herzschlag des Lebens. Manchmal hatte Verdandi einen schweren Anschlag, temperamentvoll, kräftig; das war die Zeit der Ekstase. Dann wieder bediente sie die Blattlade sanfter, mit leichter Hand, und die Welt war im Frieden.
»Spürst du nicht in deinen Knochen, was kommen wird, Hagu?«, fragte Urd. »Rietest du selbst nicht König Gunter, die Fahrt nach Hunenland zu unterlassen? Was fragst du nach Dingen, die du längst weißt?«
Hagen senkte den Kopf. Es war eine Sache, das Schicksal zu ahnen, etwas ganz anderes war es, den unerbittlichen Richtspruch zu hören. Aber er konnte sich nicht damit zufriedengeben, die halbe Antwort zu kennen. Stets war er ein Mann gewesen, der den ganzen Weg ging, wie schrecklich der auch sein mochte. »Sag mir, was geschehen wird! Werden wir Niflungenland wiedersehen?«
»Unheil erwartet Euch. Kehrt um, so lange noch Zeit ist! Sieh her, die Wege sind noch offen!«
Hagen überwand sich und warf einen Blick auf das grausige Gewebe. Und wirklich, es schien ihm, als könne er die Fäden der Niflungen ausmachen, und als sei das Garn noch nicht gefestigt.
»Offen vielleicht,
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