Der Ruf Der Walkueren
Kapuzenumhang, der niemals lächelte und sich ihnen angeschlossen hatte, um die Sachsen im Namen des Christengottes zu taufen. Die meisten Niflungen begegneten ihm mit Misstrauen und schlugen in seiner Nähe heimlich thuraz , die Donarsrune, um sich vor schädlichem Einfluss zu schützen. Gunter hielt ihn allerdings für harmlos. Gewiss, es gab Fanatiker unter den Mönchen, die heilige Bäume fällen ließen oder heilige Quellen verunreinigten. Narren, die leugneten, dass Bäume und Gewässer von Geistern beseelt waren, wo doch selbst der größte Dummkopf sehen konnte, dass jeder Grashalm, jedes Insekt sein eigenes Heil besaß. Aber solche Leute zogen sich nur den Zorn der Bevölkerung zu und waren keine ernstzunehmende Gefahr.
Beunruhigender war, dass die Frage des Glaubens die Franken zu spalten begann. Mit Besorgnis entdeckte Gunter, dass zehn, zwölf seiner Krieger neben einem Amulett mit dem Donarshammer ein Kreuz um den Hals trugen. Auch wenn es bislang nur wenige waren, würden doch unweigerlich Streit und Feindseligkeit daraus erwachsen. Götter wachten eifersüchtig über ihre Vormachtstellung. Was ihn selbst betraf, so war er sicher, dass Wodan sich am Ende als stärker erweisen würde, stärker als Christus, dessen Gefolgschaftsheer schließlich nur aus zwölf Kriegern bestand.
Die Niflungen zogen nordwärts. Sobald sie Jarl Elsungs Land erreichten, waren sie doppelt vorsichtig. Zwar ruhte der alte Grenzstreit seit Jahren, aber das bedeutete keineswegs, dass der Jarl ihnen freundlich gesonnen wäre. Die Niflungen hatten Zweige und Blätter an ihre Speere und Brünnen gebunden, um ihre friedliche Absicht zu bekunden, und vorsichtshalber alles, was auf ihre Herkunft schließen ließ, entfernt. Außerdem umgingen sie, wenn möglich, menschliche Ansiedlungen, damit nicht etwa die Kunde eines feindlichen Einfalls an Jarl Elsungs Ohr drang. Trotzdem waren sie nervös. In der ersten Nacht hielt Hagen selbst Wache, doch alles blieb ruhig, und als sie am nächsten Morgen aufbrachen, war der Waffenmeister entsprechend gereizt.
Es war noch früh, als sie an eine Wiese kamen. Die vordersten Krieger blieben stehen, dann die Nachfolgenden, bis das ganze Niflungenheer, Reiter wie Fußgänger, stillstand und nach vorn starrte. Unzählige weiße Fäden flatterten über die Wiese, blieben in Sträuchern und Bäumen hängen, verfingen sich in Gräsern und Blumen. Seelenfäden, von den Nornen zerrissen, um dem Leben ihrer unglücklichen Besitzer ein Ende zu setzen. Eine gewaltige Schlacht musste getobt haben, um so viele Menschen zur Hel zu schicken. Jäh wurden die Niflungen an ihre eigene Sterblichkeit erinnert. Ihr Leben war nur ein Faden im Gewebe der Schicksalsspinnerinnen, der jederzeit herausgenommen werden konnte.
Am späten Nachmittag gelangten sie an ein abgeerntetes Feld. Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch trafen sie wieder auf Menschen. Die Bauern beobachteten das Heer mit Sorge, doch als sie sahen, dass die Bewaffneten friedlich vorüberzogen, setzten sie ihr Tagewerk fort und kümmerten sich nicht weiter um die Krieger. Zwei Männer waren eben dabei, einen sich wehrenden Hahn an ein übrig gebliebenes Ährenbündel zu binden. Der Korndämon, der beim Schnitt von Garbe zu Garbe floh, musste in der letzten gefangengenommen und symbolisch getötet werden, sollte die Ernte im nächsten Jahr von Erfolg gekrönt sein.
Die Schnitter ließen den Hahn los, der unbeholfen hin und her lief und den Menschen zu entkommen suchte. Unter Rufen und Lärmen wurde das Tier auf dem Feld umhergejagt. Männer und Frauen hieben mit ihren Sicheln nach dem Vogel, der bereits aus mehreren Wunden blutete, und kreisten ihn ein. Vier, fünf Sicheln schlugen in seinen Körper. Schreiend brach der Hahn zusammen und brachte dem Feld sein Blut zum Opfer dar.
Einige Krieger lachten und betrachteten es als gutes Omen für die künftige Ernte. Gunter dagegen konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Den ganzen Tag über war er schweigsam und in sich gekehrt. Noch in der Nacht verfolgte ihn das grausame Schauspiel. Und obwohl er den Gedanken nie in Worte fasste, wusste er doch in seinem Inneren, warum ihn das Opfer mit dunklen Ahnungen erfüllte: Es erinnerte ihn an Sigfrids Tod.
3
Hagen erwachte von einem Ruf. Er richtete sich auf und lauschte. Da war es wieder! Jemand flüsterte seinen Namen aus weiter Ferne. Mit einem Ruck fegte er das Wolfsfell beiseite. Woher kam die Stimme? Sie schien überall zu sein. Abgesehen von dem Ruf war es
Weitere Kostenlose Bücher