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Der Ruf Der Walkueren

Der Ruf Der Walkueren

Titel: Der Ruf Der Walkueren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Kunz
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totenstill. Wachsam sah er sich im Lager um. Die anderen Männer schliefen, niemand schien etwas gehört zu haben. Seltsam.
    Ansgar, der für die Wache eingeteilt war, nahm keine Notiz von ihm, als er sich vom Lager entfernte. Für diese Nachlässigkeit verdiente er einen Tadel , doch Hagen vergaß den Gedanken wieder, noch bevor er ihn zu Ende gedacht hatte. All seine Sinne waren auf die wispernde Stimme ausgerichtet.
    Ein eigentümliches Zwielicht schuf irritierende Licht- und Schattenmuster, gestattete ihm jedoch, zügig voranzukommen. Der Ruf war wie ein Sog, dem er folgen musste. Tiefer und tiefer zwängte er sich durch das Gestrüpp. Für einen Augenblick lenkten ihn Dornen ab, aus deren Umklammerung er sich befreien musste.
    Als er wieder aufsah, entfuhr ihm ein erstickter Laut. Unmittelbar vor ihm wuchs eine gigantische Eibe in die Höhe. Zwanzig Mann hätten den Stamm nicht umfassen können, sein Wipfel verlor sich in der Weite des Himmels. Instinktiv drehte Hagen sich um: Das Gebüsch, das Lager, der Rhein   – alles war verschwunden. Bestürzt richtete er den Blick wieder nach vorn. Die breit ausladenden Äste der Eibe reichten beinahe bis auf die Erde und schufen einen kreisrunden Schatten auf dem Boden. Der Baum musste uralt sein, denn die Rinde blätterte in großen Streifen ab und hinterließ unregelmäßige dunkelrote Stellen. Auch ohne die seltsamen Umstände wäre Hagen klar gewesen, dass er Yggdrasil vor sich hatte, den immergrünen Weltenbaum, der Midgard, die Welt der Menschen, mit der Welt der Götter verband und bis in die Tiefen der Unterwelt reichte. Hastig malte er eihwaz , die Eibenrune, in die Luft, um dem Baum seine Achtung zu bezeugen.
    Eine mächtige Wurzel, die oberhalb der Erde verlief, endete in einem Quellteich. War dies der Mimirsbrunnen, der Brunnen der Weisheit, mit dessen Wasser die Nornen Yggdrasils Wurzeln begossen? Zögernd trat der Waffenmeister näher, kniete neben der Quelle auf den Boden und erblickte sein düsteres Spiegelbild darin. Unwillkürlich drängten sich Bilder einer anderen Quelle vor sein Auge, und das Wasser und der Boden ringsumher färbten sich blutrot. Er keuchte und presste eine Hand vor sein Gesicht.
    Als er sie fortnahm, war die Vision verschwunden. Ein kleiner Stein fiel in die Quelle. Sobald er die Oberfläche durchstieß, wurde er weiß wie eine Eierschale. Hagen beobachtete, wie der Kiesel bis auf den Grund sank. Und plötzlich regte sich da unten etwas. Ein dunkelgrüner Schatten erhob sich vom Boden des Teiches und stieg langsam zu ihm empor. Mimir, der Geist der Quelle! Dicht unterhalb der Oberfläche verharrte das Wesen. Mann und Geist sahen einander an. Mimirs Kopf war algenbewachsen, und an Stelle der Ohrmuscheln besaß er zwei Membrane, die im Herzschlag des Wassers pulsierten. Hin und wieder bewegten sich seine Kiemen.
    Hagen hatte jegliches Zeitgefühl verloren; er wusste nicht, wie lange sie so gesessen und sich durch den Vorhang des Wassers betrachtet hatten. Plötzlich näherte sich Mimirs schuppige Hand der Oberfläche, durchbrach sie und bewegte sich auf seinen Kopf zu. Wie gelähmt ließ der Waffenmeister es geschehen, dass die kalten Finger mit den Schwimmhäuten seine Augenklappe anhoben und die leere Augenhöhle berührten. Ein greller Blitz explodierte in seinem Kopf. Hagen schrie und wälzte sich im Gras. Doch schon verebbte der Schmerz und ließ nur dumpfes Pochen zurück. Ungläubig nahm der Waffenmeister die Klappe fort und betastete sein Gesicht. Wo eben noch eine narbige Höhle gewesen war, befand sich jetzt wieder ein Auge. Wodans Auge! Mimir hatte ihm das Auge des Asen gegeben, das Auge, das Wodan einst an diesem Brunnen geopfert hatte, um vom Wasser der Erkenntnis zu trinken! Eine Flut aus Licht durchströmte Hagens Kopf. Es war, als hätte das Wasser einen schmutzigen Schleier entfernt und seine Seele gereinigt. Mimir jedoch war verschwunden.
    Ehe Hagen Gelegenheit erhielt, sich von dem Schock zu erholen, vernahm er wieder den Ruf, diesmal lauter als zuvor. Es war aber gar nicht sein Name, der da gerufen wurde, sondern ein düsterer Gesang von der Rückseite Yggdrasils. Die Büsche wichen zur Seite, als er den Weltenbaum umrundete, und enthüllten eine Lichtung mit drei Frauen. Die eine saß an einem Webstuhl und wob mit atemberaubender Geschwindigkeit, die zweite studierte das fertige Tuch, die dritte hockte am Feuer und streute Runenhölzchen auf eine Decke. Um den Webstuhl herum steckten Hunderte von Schwertern in

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