Der Ruf Der Walkueren
gehorchten ihm nicht länger. Langsam hob sie den Ger und richtete ihn auf sein Herz. Wie gelähmt sah er die Spitze auf sich zukommen und spürte, wie sie ihm elkaz , die Rune der Walküren, in die Haut ritzte. »Nein«, keuchte er, »ich bin noch nicht bereit! Dietlind! Ich muss –«
Ein Blutstrom quoll aus seinem Mund und erstickte den Rest des Satzes. Hillebrands Schwertstoß hatte beide Lungenflügel durchbohrt. Mimung fiel zu Boden. In einer flehenden Geste streckte Gislher die Hand aus, doch das Herz der Walküre war nicht zu erweichen, ihre Augen ruhten kalt und gefühllos auf ihm. Gleichgültig sah sie zu, wie er in sich zusammensackte. Dann erst wandte sie sich ab und schritt unhörbar weiter, um einem anderen ihr unheilvolles Zeichen zu ritzen.
Gislher fühlte die tödliche Wunde. Das durfte nicht sein! Es war nicht richtig, dass er jetzt und hier starb! Die Zukunft schuldete ihm noch etwas, sie schuldete ihm ein ganzes Leben! Das alles musste ein furchtbarer Irrtum sein, er hatte eine Braut! Mit beiden Händen ergriff er das Amulett um seinen Hals.
Gernholt sah seinen Bruder zu Boden sinken. Schreiend stürzte er zu ihm, auf seinem Weg alles niedermähend, was ihm in die Quere kam. Dann warf er Schild und Schwert fort und bettete Gislhers Kopf an seiner Brust. Immer wieder brüllte er seinen Namen.
Mit trüber werdenden Augen nahm Gislher wahr, wie die Todesbotin zurückkehrte. Was wollte sie noch? Er war ihr doch längst sicher! Bestürzt entdeckte er, dass ihr Blick nicht ihm galt, sondern Gernholt. Unter Schmerzen bäumte er sich auf, versuchte, ihn zu warnen. »Walküre …«, stammelte er, aber ein Schwall Blut quoll über seine Lippen und machte die Worte unverständlich. Sah sein Bruder denn nicht den Schatten des Todes, der über ihm schwebte?
Die Walküre traf ihre Wahl. Langsam hob sie den Ger.
»Nein«, krächzte Gislher unter einem erneuten Blutschwall und versuchte, ihr in den Arm zu fallen. Sie beachtete ihn nicht einmal. Der Speer ging mühelos durch ihn hindurch und zeigte mit der Spitze auf Gernholts Herz. Gislher sah die Rune über dem Herzen seines Bruders leuchten, elkaz , das Zeichen des fliegenden Schwans, Symbol der Schwanenmädchen.
Verblüfft entdeckte nun auch Gernholt den Schatten der brünnebewehrten Kriegerin neben sich auftauchen. Ihre Totenaugen fesselten ihn. Wodans Schildmädchen , ging es ihm durch den Kopf, und eher verwundert denn in Panik begriff er, dass sie ihn kürte und für die Halle des Asen auswählte.
Aus den Augenwinkeln sah Gernholt Hillebrand auf sich zukommen. Instinktiv griff er nach seinem Schwert, ohne Gislher loszulassen, aber die Tränen nahmen ihm die Sicht, und dann spürte er nur noch das scharfe Metall der Klinge, die sich durch die Brünne in sein Herz fraß. Neben seinem Bruder sank Gernholt auf die Erde. Die Wunde spürte er kaum. Was er jedoch spürte, war die Kälte der Finsternis, die von der Spitze des Speeres ausging, den die Walküre in sein Herz senkte. Die eisige Dunkelheit machte ihn taub und sog ihm langsam, aber unaufhaltsam das Leben aus. Noch immer hielt er den Körper seines Bruders umarmt, als er schließlich starb. Gislher brauchte einen Atemzug länger.
Didrik tötete einen Widersacher und wandte sich zum nächsten Feind um, aber es war niemand mehr da. Um ihn herum türmten sich Leichenberge. Erschöpft hielt er inne. Er konnte die Zahl derer, die er erschlagen hatte, nicht nennen, aber es fühlte sich an wie Hunderttausende. Sein Schwertarm war verkrampft. Er blutete aus unzähligen Wunden. Auch sein Bein hatte offenbar etwas abbekommen. Er humpelte an der Gartenmauer entlang, um nach Überlebenden Ausschau zu halten. Der Boden war übersät mit Leichen, manchmal waren es nur Körperteile. Drei, vier schwer verletzte Hunen kamen ihm entgegen. Sie grüßten nicht, sie jubelten nicht über den Sieg. Ihre Augen waren stumpf. Auch Didrik war zu keiner Regung fähig. Erst, als er seinen Ziehvater entdeckte, wurde ihm etwas leichter ums Herz. »Irgendwelche Überlebenden?«, erkundigte er sich.
»Eine Handvoll Hunen. Keine Niflungen.«
Didrik nickte. Sie hatten gesiegt, aber um welchen Preis! »Was ist … mit dem Mannwolf?« Er brachte es nicht über sich, Hagens Namen zu nennen. Der Waffenmeister existierte nicht, so lange der Wolf in ihm lebte.
»Ich dachte, du hättest ihn getötet!«
Sie sahen sich an und gingen wie auf Kommando los. Sie wussten beide, was es bedeutete, wenn der Berserker noch am
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