Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
Stapel von Notizen, die Schnipsel aus den Nationalarchiven, die Wrackkarten, das Material, das Ray im Archivo General de Indias in Sevilla entdeckt hatte, waren bereits einsortiert.
Außerdem hatte Tate seine Karten, Diagramme, Wetterberichte, Manifeste und Tagebücher geordnet und konzentrierte sich nun auf seine Berechnungen.
Dutzende von Malen hatte sie sie schon überprüft. Wenn seine Informationen korrekt waren, befanden sie sich im richtigen Gebiet. Das Problem bestand natürlich darin, dass selbst bei einer ziemlich genauen Ortsangabe das Auffinden eines Wracks mit der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen vergleichbar war.
Das Meer war so riesig, so unendlich, und trotz der neuesten technologischen Errungenschaften blieben die Fähigkeiten des Menschen begrenzt. Es war durchaus vorstellbar, sich zehn Meter von einem Wrack entfernt zu befinden und es trotzdem zu übersehen.
Mit der Marguerite hatten sie einfach unverschämtes Glück gehabt. Angesichts ihres Vaters Hoffnung und Aufregung wollte Tate die Wahrscheinlichkeit, ob sich ihr Glück wiederholen würde, lieber nicht berechnen.
Wir brauchen die Isabella, dachte sie. Sie alle brauchten sie, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen.
Tate wusste, dass das Magnetometer an Bord der Mermaid in Betrieb war, eine zuverlässige und effiziente Methode, ein Wrack ausfindig zu machen. Bisher hatte der Sensor, der hinter der Mermaid hergezogen wurde, keinerlei Spuren von Metall angezeigt, wie man es bei Kanonen, Takelage oder einem Anker vermuten würde.
Auf beiden Brücken meldeten Tiefenmesser jede verräterische Veränderung in der Wassertiefe, und sie hatten Bojen gesetzt, um das Suchraster festzulegen.
Tate war sich ganz sicher, dass sie die Isabella finden würden, falls sie tatsächlich dort unten lag.
»Hier drinnen bekommst du keine Farbe auf die Wangen, Rotschopf.«
Überrascht sah sie auf und stellte fest, dass Matthew ihr ein Glas von Marlas Limonade hinhielt. »Du bist zurück? Wie macht sich LaRue unter Wasser?«
»Er ist ein guter Tauchpartner. Wie oft willst du das hier noch alles prüfen?«
Sie ordnete ihre Unterlagen. »Bis ich fertig bin.«
»Was hältst du von einer Pause?« Er spielte mit dem Ärmel ihres T-Shirts. Den ganzen Tag lang hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet, und er war sich immer noch nicht ganz sicher, ob er nicht vielleicht einen Fehler beging. »Lass uns nach Nevis fahren und essen gehen?«
»Essen?«
»Richtig. Du …«, wieder zupfte er an ihrem Ärmel, »… und ich.«
»Lieber nicht.«
»Ich dachte, wir haben ein neues Kapitel aufgeschlagen?«
»Das heißt nicht …«
»Ich habe keine Lust auf das große Binokelspiel, das für heute Abend geplant ist. Soweit ich mich erinnern kann, bist du auch kein großer Kartenfan. In der Hotelanlage spielt auf der Terrasse eine Reggaeband. Gutes Essen, ein wenig
Musik. Wenn wir die Isabella erst gefunden haben, bleibt uns wenig Zeit für derartige Vergnügungen.«
»Es war ein langer Tag.«
»Man könnte glauben, du hast Angst, ein paar Stunden mit mir zu verbringen.« Seine Augen blinzelten ihr zu, blau wie das Meer und arrogant dazu. »Wenn du natürlich befürchtest, du könntest dich mir wieder an die Brust werfen …«
»Mach dich nicht lächerlich.«
»Also abgemacht.« Zufrieden steuerte er auf den Kabinengang zu. »Lass dein Haar offen, Rotschopf, so gefällt es mir.«
Natürlich trug sie es hochgesteckt. Nicht etwa, um ihn zu ärgern, versicherte sie sich, sondern weil sie es so wollte. Marla hatte darauf bestanden, dass Tate ein Sommerkleid in der Farbe zerdrückter Blaubeeren aus dem Schrank ihrer Mutter anzog. Dank des weiten Rocks hatte sie keinerlei Probleme, einigermaßen damenhaft in das Beiboot hinein- und später wieder herauszuklettern.
Nachdem sie es sich bequem gemacht hatte und das kleine Boot in Richtung Insel schipperte, gestand Tate sich ein, dass sie sich auf ein gepflegtes Menü und die Musik freute.
Die Luft war mild, und die Sonne schien noch hell. Hinter ihrer Sonnenbrille musterte Tate Matthew eingehend. Sein Haar flatterte ihm ins Gesicht, seine Hand lag ruhig auf der Ruderpinne. Wenn zwischen ihnen nicht schon so viel vorgefallen wäre, hätte sie einen entspannten Abend mit einem attraktiven Begleiter genießen können.
Aber die Vergangenheit war nicht auszulöschen, und Tate nahm eine gewisse Erregung wahr. Schon wieder dieser Konkurrenzkampf, dachte sie. Falls er sich einbildete, sie
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