Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
»Matthew …«
Mit einer Hand an der Maske hielt Matthew inne, bevor er ins Wasser sprang. »Was ist?« Er erkannte Bucks Angst und bemühte sich, sie zu ignorieren.
»Nichts.« Buck rieb sich mit einer Hand über den Mund und schluckte, während ihm alptraumähnliche Visionen von Haien und Blut durch den Kopf gingen. »Viel Spaß!«
Matthew nickte kurz und glitt ins Wasser. Er unterdrückte den Implus, weiter nach unten zu schwimmen, sich in der Stille und Einsamkeit zu verlieren. Gemächlich kraulte er zur New Adventure hinüber und begrüßte Ray lautstark.
»Seid ihr so weit?«
»Fast.« Ray trug schon seinen Taucheranzug und kam grinsend an die Reling. »Tate überprüft noch ihre Kamera.« Er hob eine Hand und winkte Buck zu. »Wie hält er sich?«
»Tapfer«, antwortete Matthew. Über die Ängste seines Onkels wollte er im Augenblick lieber nicht nachgrübeln. Nachdem sie endlich an Ort und Stelle angekommen waren, konnte er es kaum abwarten zu tauchen. »Los, Rotschopf!«, rief er. »Sonst ist der Morgen gleich um!«
»Bin schon unterwegs.«
Momente später beobachtete er, wie sie elegant ins Wasser eintauchte. Mit einem schnellen Hechtsprung folgte Matthew ihr in die Tiefe, während Ray ins Wasser glitt.
Seite an Seite schwammen sie zu dritt immer tiefer.
Matthew hatte nicht erwartet, dass die Vergangenheit so lebendig auf ihn einstürzen würde. Ungebeten und unerwünscht kehrten die Erinnerungen an jenen Sommer zurück. Er dachte daran, wie sie ihn bei ihrem ersten Zusammentreffen angesehen hatte. Die vorsichtigen, misstrauischen Augen, ihre spontan aufflackernde Wut, ihre Abneigung.
Und er wusste noch ganz genau, dass er ihren Reizen sofort erlegen war, was er sich natürlich nicht hatte anmerken lassen – oder zumindest hatte er sich das eingebildet. Er dachte an den Konkurrenzkampf zwischen ihnen, als sie gemeinsam getaucht waren, ein Gefühl, das er nie ganz überwinden konnte, selbst als sie als Team arbeiteten.
Und dann die Begeisterung, als sie das Wrack gefunden hatten. Während dieser Zeit hatte Tate sein Herz erobert und seine Hoffnungen geschürt wie nichts und niemand zuvor.
Oder seither. Die Erinnerungen an seine Verliebtheit, die gemeinsame Arbeit, die Entdeckung des Wracks und seine Hoffnungen bewegten ihn immer heftiger, je mehr sie sich dem Schatten des Wracks näherten.
Und dann folgten Entsetzen und ein schreckliches Gefühl von Verlust.
Bis auf den zerstörten Schiffskörper der Galeone hatte VanDyke nichts übrig gelassen. Matthew war auf den ersten Blick klar, dass es überhaupt keinen Sinn hätte, hier noch einmal mit dem Sauger zu arbeiten. Sie würden nichts mehr finden. Auf der Suche nach der allerletzten Dublone hatte VanDyke das Wrack zerstört.
Seine Empfindungen überraschten ihn. Bei einer sorgfältigen Vorgehensweise hätte die Marguerite gerettet werden können, stattdessen hatte man ihre Bruchstücke den Würmern zum Fraß vorgeworfen.
Als er Tate ansah, wurde Matthew bewusst, dass das vage Bedauern, das er angesichts des Schiffes empfand, nichts im Vergleich zu ihren Gefühlen war.
Tate war erschüttert. Sie starrte auf die zerstörten Planken und gab sich keine Mühe, ihre Trauer zu verbergen, sondern ließ sich von ihr mitreißen.
Er hat sie vernichtet, dachte sie. VanDyke hatte sich nicht mit der Vergewaltigung des Schiffes zufrieden gegeben, er hatte die Marguerite zerstört. Jetzt konnte niemand mehr erkennen, was sie gewesen war, was sie bedeutet hatte. Und das ganz allein wegen der Gier eines einzigen Mannes.
Sie hätte gern geweint, doch die Tränen erschienen ihr verspätet und sinnlos. Stattdessen schüttelte sie Matthews tröstende Hand von ihrer Schulter ab und hob ihre Kamera. Wenn sie schon nichts mehr tun konnte, würde sie dieses Bild der Zerstörung wenigstens festhalten.
Ray fing Matthews Blick auf, schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, gemeinsam mit ihm ein Stück weiter zu schwimmen.
Die Schönheit der Unterwasserlandschaft, die sie umgab, hatte sich nicht verändert. Die Korallen, die Fische, die hin und her schwingenden Pflanzen … Aber Tate nahm ihre Umgebung nicht mehr wahr, während sie die Szene festhielt.
Irgendwie empfand sie es sogar als passend, dass die Marguerite zerstört und ausgeplündert worden war. Genau wie die Liebe, die sie einst Matthew entgegengebracht hatte.
Jetzt, dachte sie, war dieser Sommer endgültig vorbei. Es war an der Zeit, die Vergangenheit zu begraben und einen neuen Anfang zu
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