Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
ausgebildet und gesagt, dass eine Waise von Glück sagen könnte, eine solche Arbeit zu bekommen. Aber die Frau hatte sie bei Tage losgeschickt, um Besorgungen zu machen, und das Sonnenlicht machte Beatrix mehr und mehr zu schaffen. Ihre Haut brannte, und ihr Kopf schmerzte. Bis sie sich dann eines Morgens geweigert hatte hinauszugehen. Ihre Rebellion hatte eine Tracht Prügel zur Folge gehabt, die vermutlich die erste von vielen sein würde. In jener Nacht war Beatrix in die tröstende Dunkelheit hinausgeschlüpft, um nie mehr zurückzukehren.
Jetzt klaubte sie Abfälle hinter Tavernen zusammen und schlief in einem Mietstall zusammengerollt im Heu bei den Pferden und hatte nur deren Atem, der sie wärmte. Aber ganz egal, wie viel sie aß in diesen Tagen, sie war immer hungrig. War es überhaupt Hunger? Es war eine Art von Kribbeln, von unerfülltem Gefühl, und es wurde stärker.
Heute Abend war es schlimmer als je zuvor. Sie hätte am liebsten geschrien. Einem Straßenverkäufer hatte sie eine ganze Fleischpastete gestohlen und rannte jetzt durch die gewundenen Gassen davon, so schnell sie konnte, um zu den Sümpfen jenseits der Stadtmauern zu gelangen. Als sie allein war, stopfte sie sich große Stücke der Pastete in ihren Mund, bis sie keuchte und würgte.
Aber er hörte nicht auf, dieser quälende, drängende Hunger. Auf allen vieren im Matsch neben der höher gelegenen gepflasterten Straße kauernd, rang sie nach Atem. Wie konnte sie den Schmerz und das Hämmern in ihrem Kopf dazu bringen, zu verschwinden? Sie konnte nicht mehr denken! Der Geruch modriger Verwesung umgab sie. Ein Pferd ging weit entfernt auf der Straße. Gefühle bestürmten Beatrix. Sie wollte zu Marte. Sie wollte …
Sie wollte den Becher mit warmem Blut, den ihre Mutter ihr manchmal zur Schlafenszeit gebracht hatte.
Natürlich! Blut würde den Hunger stillen. Das Klappern der Pferdehufe klang jetzt näher und lauter. Sie hatte zuvor schon versucht, an ihre Lieblingsnascherei zu kommen. Ihre Herrin hatte nichts im Haus gehabt, aber die Straßenverkäufer auf dem Marktplatz verkauften Blut für Würstchen und Puddings. Beatrix hatte dieses Blut gekostet und irgendwie war es nicht das Gleiche gewesen. Woher sollte sie es bekommen? Mutter …
Schluchzen schüttelte sie, als ihr der Rest der Pastete hochkam und sie sich in den Dreck zwischen den Binsen erbrach. Sie konnte das Pferd atmen hören, als es näher kam, und dann noch das Atmen, das des Reiters, und das Pulsieren von … von Blut. Sie stand auf, das Gewicht ihres durchnässten Wollkleides wirkte irgendwie tröstend. Er war ein großer Mann, und er war prächtig gekleidet. Sie konnte in der Dunkelheit gut sehen. Und er pulsierte von dem, was sie brauchte.
Warum war alles so rot? Brannten sie die Felder ab? Der Rauch ließ den Mond dann manches Mal rot aussehen … Sie stieß den Atem aus. Sie war stark. Und der Mann auf dem Pferd hatte, was sie wollte. Was sie brauchte. Es pulsierte dort in seiner Kehle. Das Pferd befand sich jetzt mit ihr auf einer Höhe. Beatrix schloss den Mund und fühlte einen schmerzhaften Stich in ihrer Lippe. Sie konnte ihr eigenes Blut riechen, das aus der Wunde quoll. Die Röte verstärkte sich, und mit ihr kam die Gewissheit, verbunden mit diesem Geruch.
Sie sprang auf die Straße und riss den Mann aus dem Sattel. Mit einem dumpfen Aufprall schlug er zu Boden. Ein Luftschwall entwich seinen Lungen. Das Pferd wieherte vor Furcht und galoppierte davon. Aber Beatrix hatte nur Augen für das Pochen in der dicken Kehle des Mannes. Sie fiel über ihn her, knurrend, riss an seinem Hals. Er schrie und zappelte, aber der Schrei wurde zu einem gurgelnden Geräusch, und da war es, das Blut, in süßer, kupferfarbener Ekstase quoll es in ihren Mund. Sie saugte an dem zerrissenen Fleisch und fühlte sich … lebendig. Ihr quälender Schmerz verschwand. Das Blut des Mannes hörte auf zu sprudeln.
Sie erhob sich von dem Wrack, das einst ein Mann gewesen war. Verschwommen war sie sich bewusst, dass seine Kehle zerfetzt war und dass sie es getan hatte. Seine Augen trübten sich und sein Zucken hörte auf. Wenn jemand ihn fand, würde man sagen, er sei von einem Tier getötet worden, oder von einem Ungeheuer. Ihre Mutter hatte gesagt, sie sei anders. Jetzt wusste sie, warum. Kein Wunder, dass ihre Mutter sie verlassen hatte.
Beatrix wandte das Gesicht zum Mond empor, der so kalt war, verlässlich, mit einem vorhersagbaren Zyklus, wenn man erst sein Geheimnis kannte.
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