Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
Zimmer schwankte unheilvoll.
Offenbar erkannte Withering, dass der Sieg über einen Gegner, der nahe davor war, in Ohnmacht zu fallen, ein zu leichter war, und so lenkte er ein. »Lassen Sie uns nach der Wunde sehen, Mylord.«
Nachdem sie ihn unter Schmerzen aus seinem Mantel geschält hatten, legte sich John aufs Bett und gab sich Witherings Fürsorge anheim. Um Witherings Prophezeiungen einer bleibenden Invalidität auszublenden, ließ John seine Gedanken zur Gräfin zurückschweifen. Er konnte verstehen, warum London ihr hörig war. Sie war natürlich wunderschön, aber London hatte Frauen, die es an Schönheit mit ihr aufnehmen konnten. Nein, da war etwas an ihr … eine Abgeklärtheit, der subtile Anschein, alles schon gesehen zu haben und um die Gefahr zu wissen, die darin lag. Es schüttelte ihn. Natürlich hatte eine Kurtisane alles gesehen. Aber da war noch mehr. Sie balancierte an einem Abgrund, und die Stadt sah mit angehaltenem Atem zu.
Er grunzte vor Schmerz, als Withering einen neuen Verband um seine Schulter anlegte.
»Sie sollten den Doktor holen lassen, Mylord.« Das war ein vertrauter Spruch seines Kammerdieners.
»Ich kann mir kein Gerede leisten.« Oder zumindest nicht noch mehr Gerede, als sein Ruf bereits hergab. Sollte die gute Gesellschaft doch schlecht von ihm denken. Sollten Mütter und deren Töchter die Straßenseite wechseln, wenn er ihnen entgegenkam. Aber von seinem Doppelleben mussten sie nichts wissen. Nur Withering wusste von Johns anderer Profession, abgesehen natürlich von Barlow und ein oder zwei anderen in der Regierung. Natürlich wusste sein Kammerdiener niemals Einzelheiten von Johns Missionen oder irgendetwas über Barlow. Dennoch war es fast ein Trost, eine Person außer Barlow zu haben, bei der es nicht nötig war zu heucheln. John war kein Narr. Barlow sorgte sich einzig um seine Einsatzfähigkeit. John war nützlich, er war der beste Geheimagent, den England gegen Napoleon hatte, in einem Krieg, der erschreckend einseitig geworden war. Wenn Barlow ihm befahl, herauszufinden, was in Frankreich vor sich ging, dann tat John das.
Etwas ging vor sich, das war sicher. Vier tote britische Agenten, und alle waren auf die gleiche grausame und unerklärliche Weise gestorben. Barlow hatte Johns Bericht kaum geglaubt, demzufolge die Opfer völlig blutleer gewesen waren. Der französische Geheimdienst agierte in letzter Zeit äußerst erfolgreich. Gerüchte besagten, es gäbe einen neuen Leiter an dessen Spitze. Aber er und Barlow würden diesen Abscheulichkeiten ein Ende setzen. John biss die Zähne zusammen.
Das war es! Das war es, was so faszinierend an der Gräfin war! Sie hatte Geheimnisse, genau wie er, und er würde wetten, dass sie beide sich in nichts nachstanden. Withering wollte ihm etwas Laudanum geben, aber John schüttelte den Kopf. Er wollte bei klarem Verstand sein. Verstand. Welcher Verstand? Hier lag er und sehnte sich nach einer Frau, die wie alle anderen Frauen war, die er in seinem Leben gekannt hatte, ohne jede Spur von Tugend und ohne Ehre …
Das Geheimnis, das ihn am meisten störte, war jedoch, dass er die Gräfin wiedersehen wollte.
Kapitel 3
W itherings düstere Prognosen mochten sich nicht bestätigt haben, dennoch fühlte John sich auch am Freitag noch immer nicht besser. Er blieb den größten Teil des Tages in seinem Schlafrock, und obwohl er das Angebot seines Kammerdieners ablehnte, einen Arzt zu holen, fügte er sich doch widerspruchslos Witherings Fürsorge und trank die vertraute Mixtur aus rohen Eiern und Pfeffer, ohne zu klagen. Er wollte eben Witherings Ansinnen zustimmen, ein frühes Abendessen zu besorgen, um in seinen Räumlichkeiten zu essen, als vom Portier eine Nachricht heraufgeschickt wurde.
Auf dem Schreiben prangte Barlows Siegel. »Das ist alles, Withering«, sagte John, während er den Umschlag aufriss. Er überflog die einzige Zeile, die die Nachricht umfasste. »Abendessen in Brooks’ oberen Räumen. Neun Uhr. Barlow.«
»Withering«, rief John. »Ich werde bei Brooks essen. Legen Sie einige Halsbinden heraus.« Hatte Barlow die Identität der Spinne im Zentrum des neuen französischen Geheimdienstnetzes bereits gelüftet?
»Ja, Mylord«, sagte Withering seufzend.
Genau genommen fühlte es sich gut an, in die frische Märzluft hinauszutreten, dachte John, während er die Duke Street hinunterging. Zu Brooks, wo Barlow ein kleines privates Esszimmer hatte reservieren lassen, war es nicht weit. Bei Dover-Seezunge und
Weitere Kostenlose Bücher