Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
Heute Nacht hatte sie das Geheimnis des Hungers entdeckt. Und sie fühlte sich stark. Wie ein starkes Ungeheuer.
Beatrix strich sich über die Augen und massierte sich die Schläfen, als könnte sie so die Erinnerungen vertreiben. Hättest du mir nicht sagen können, was ich war, Mutter? Hättest du mir nicht zeigen können, dass ich nicht so sein musste, dass ich ihnen nicht die Kehle zerfetzen und sie töten musste? Ich habe gedacht, ich bin böse.
Es war Stephan, der ihr von dem Gefährten in ihrem Blut erzählt hatte, der sie zu dem machte, was sie war. Ihre Mutter hatte sich dazu herbeigelassen, ihr während der Kindheit von Zeit zu Zeit menschliches Blut zu trinken zu geben, um den Gefährten ruhig zu halten. Aber als der Gefährte während Beatrix’ Pubertät begonnen hatte, sich und seine Macht zu zeigen, hatte ihre Mutter sie verlassen, weil sie sich nicht die Rolle als Mentor hatte aufbürden wollen. Diese Aufgabe war Stephan zugefallen und, schlimmer noch, Asharti. Aber sie wollte nicht daran denken oder an das, was danach geschehen war.
Diese verdammten Erinnerungen! Sie hatte all das vor Hunderten von Jahren verdrängt. Sie war über den Schmerz hinaus, und sie mied das Böse in diesen Tagen. Was bedeutete es, dass die Erinnerungen jetzt so beharrlich zurückkamen? Was immer es heißen mochte, es konnte nichts Gutes sein.
Sie wandte sich dem riesengroßen Bett zu. Heute Nacht würde sie nicht einmal die Ablenkung haben, den Hunger ihres Gefährten zu sättigen. Sie legte ihren Schlafrock ab. Es war Langleys Schuld. Nach Blendon hätte sie eine ganze Woche oder länger kein Blut gebraucht. Aber der Geruch von Langleys Blut hatte ein Rühren von Leben durch ihre Adern gesandt. Der Gefährte sehnte sich mit einer Macht nach dem Leben, der zu widerstehen fast unmöglich war. Der Rausch von Leben, wenn sie ihn sättigte, war ein Weg, wie sie den Wahnsinn abwehren konnte. Aber er brachte sie auch einem Kontrollverlust am nächsten. Es war ein schmaler Grat. Aber sie hatte die Kontrolle nicht verloren. Nicht bei Blendon.
Beatrix streifte ihr Hemd ab, griff nach dem Seidenkleid aus ihrem Ankleidezimmer und zog es sich über den Kopf. Warum dann hatte allein der Geruch von Blut diese pochende Leidenschaft in ihr ausgelöst? Sie zog die Nadeln aus ihrem hochgesteckten Haar und ließ die kastanienbraune Flut über ihren Rücken wallen. Langley. Irgendetwas an Langley selbst war es gewesen. Sie suchte in ihrer Erinnerung an diesen Abend. Er sah gut aus, war gut gebaut, aber das waren tausend andere Männer auch. Sie war unempfänglich für die körperlichen Reize von Männern. Ein schwer definierbarer Ausdruck um seinen Mund und seine Augen sagte, dass er nicht so hart war, wie er vorgab. Er verbarg etwas; seine Verletzung, sicherlich, aber da war noch mehr. Das war es! Als Meisterin im Verbergen erkannte Beatrix Geheimhaltung, selbst wenn diese als Geringschätzung getarnt daherkam. Was außer einer Verletzung verbarg er noch?
Sie wollte mehr über Langley wissen.
Während sie die schweren Vorhänge sorgsam vor die Fenster zog, kam ihr in den Sinn, dass sie Langley wirklich nicht für den Salon am Dienstag einladen konnte, nachdem sie ihn so offen brüskiert hatte. Natürlich hatte er sie als Reaktion darauf ebenfalls brüskiert, indem er davon ausgegangen war, dass sie keine Einladung für den Ball der Herzogin von Bessborough am Sonnabend bekommen hatte. Was bedeutete, dass er vermutlich dort sein würde. Beatrix stieg in das große Bett und schlüpfte unter die Decke. Sie hatte keine Einladung, natürlich nicht. Aber das ließ sich ändern.
In der Wohnung Nummer sechs in Albany House öffnete Withering die Tür. Ganz offensichtlich hatte er Johns Anweisung missachtet, nicht auf ihn zu warten. Jetzt warf er nur einen Blick auf seinen Herrn und ergriff seinen Arm.
»Benehmen Sie sich nicht wie ein altes Weib, Withering«, protestierte John. »Straßenräuber, das ist alles.«
»Ihre Wunde blutet wieder, Mylord, nicht wahr?« Der Mann war in den Fünfzigern, seine Mundwinkel waren beständig heruntergezogen, und seine Kleidung war schlicht und untadelig. Er ging mit John durch dick und dünn. »Falls Sie sich erinnern, Mylord, ich habe Sie darauf hingewiesen, dass dies durchaus im Bereich des Möglichen liegt, da Sie darauf beharrten, heute Abend auszugehen.«
»Ich erkenne Ihre moralische Überlegenheit rückhaltlos an«, murrte John, während Withering ihn entschlossen ins Schlafzimmer führte. Das
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