Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
waren eindrucksvoll und seine Lippen voll, auch wenn er sie im Moment streng zusammenpresste. Doch es waren seine Augen, die die Aufmerksamkeit fesselten. Sie waren dunkle Seen der … Leere. Man konnte es nicht Kummer nennen. In ihnen lag alles und nichts.
Sie standen da und sahen sich an. Vibrationen flossen auf John herunter. Sie waren fast wie ein Vorhang aus dichter … Energie. John kniff den Mund zusammen. Er spürte eine unglaubliche Macht.
John atmete durch, schluckte und nickte. »Danke.«
»Nehmen Sie Umhang und Handschuhe des Mannes, Mechlin.«
John überreichte dem alten Mann seine Garderobe und bemerkte den Abscheu, mit dem er die Sachen entgegennahm.
»Und schicken Sie Brandy in die Bibliothek!« Sincai winkte John die Treppe hinauf.
John ging im Geiste noch einmal durch, was er sich seit zwei Nächten und zwei Tagen in Gedanken zurechtgelegt hatte. Er stieg die Treppe hinauf und versuchte, seine Sinne beisammenzuhalten. Sincai wies stumm auf einen Stuhl vor dem Kamin.
»Ich … hätte Sie nicht auf diese Weise behelligt, ginge es nicht um eine Angelegenheit von extremer Wichtigkeit und Eile«, begann John, ohne sich hinzusetzen. »Und ich fürchte, diese Angelegenheit wird nicht warten können, bis Sie Ihre gesellschaftliche Verpflichtung heute Abend erfüllt haben. Eile ist von höchster Bedeutung.«
»Sie irren sich. Ich gehe heutzutage nicht mehr aus, aber ich kleide mich gern zum Abendessen um.« Sincais Stimme kam tief aus seinem Brustkorb und klang sehr sonor. Das Gewicht von Jahren lag auf jeder Silbe. Er hatte eine Nonchalance an sich, die John vage vertraut vorkam. Ehe er noch mehr sagen konnte, wurde von einem plötzlich sehr korrekten Mechlin der Brandy serviert. Sincai schenkte sich aus dem kristallenen Dekanter ein, während sich Mechlin unter Verneigungen zurückzog. »Ihrem Akzent zufolge ziehen Sie es womöglich vor, Französisch zu sprechen, oder …« Hier hielt er inne, als lauschte er auf etwas. »Englisch?«
John war verdutzt. Der Mann hatte ein gutes Ohr. Ihm wurde bewusst, dass er sich noch nicht einmal vorgestellt hatte. »Englisch, wenn ich die Wahl habe. Ich bin John Staunton, Earl of Langley.« Es machte keinen Sinn, Tricks anzuwenden. Er konnte es sich nicht leisten, als Lügner dazustehen.
»Vielleicht«, fuhr Sincai in perfektem Englisch fort, »sollten wir damit anfangen, dass Sie mir sagen, warum ich Ihnen nicht in der nächsten Minute den Kopf abreißen sollte.«
John blinzelte. Was immer er auch erwartet hatte, das ganz gewiss nicht. »Weil Sie dann nicht erfahren würden, warum ich gekommen bin oder warum ich von Ihnen weiß, oder was Beatrix Lisse mit alldem zu tun hat.«
»Ich weiß, dass es Bea sein muss, die Sie geschaffen hat. Ich dachte, sie hätte mehr Selbstbeherrschung.«
»Woher wissen Sie, dass ich geschaffen wurde?« Er musste das einfach fragen.
»Ihre Vibrationen sind langsam – wie jene von erst kürzlich Geschaffenen. Es ist unmöglich zu verbergen. Ich würde vermuten … Tage … Eine Woche höchstens. Und jetzt frage ich Sie noch einmal, warum ich Sie nicht auf der Stelle töten sollte.«
John neigte den Kopf und verfluchte sich selbst. Natürlich würde dieser Mann ihn dafür hassen, dass er ein Geschaffenener war, nach seinem Versagen bei Asharti. Sincai musste Beatrix dafür verachten, dass sie ihn geschaffen hatte. Würde er sich weigern, ihr zu helfen? John spürte, dass er in der Klemme war. Alles, woran er hatte denken können, war der überwältigende Drang gewesen, hierherzukommen und Beatrix zu retten. Er hatte nicht geglaubt, dass es solch ein furchtbares Hindernis zwischen ihm und seinem Ziel geben könnte. Dieser Mann war erfüllt von Misstrauen. Er hatte sich von der Welt zurückgezogen. Was konnte John hier ausrichten? Diese Nonchalance! Sie war viel beredter als das Desinteresse, das ihm Beatrix entgegengebracht hatte, als er ihr das erste Mal begegnet war. John sammelte sich. Er würde Sincais Frage nicht beantworten. Nicht direkt. »Geben Sie nicht Beatrix die Schuld. Wir wurden beide … verletzt. Ihr Blut vermischte sich mit meinem. Sie hat mich nicht willentlich geschaffen.«
»Wir alle haben die Wahl. Sie hätte Sie sterben lassen können.«
»Vielleicht ist sie zu gutherzig.«
»Bea?« Sincai schnaubte.
»Sie kennen sie nicht so gut, wie Sie meinen«, sagte John. Sincai musterte ihn überrascht. Gut. Sollte der alte Sünder ruhig ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten. Vielleicht würde das seine
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