Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
Wahnsinnigwerden.
Überall, wo er auftauchte, rief er Angst und Schrecken hervor, weil er, verhüllt von Kopf bis Fuß, wie ein spanischer Bandit aussah. Er murmelte immer etwas von einer Krankheit und das, zusammen mit einer gewissen Freigebigkeit, sorgte für einen Anflug von so etwas wie Dienstfertigkeit, wenn auch nicht für guten Willen.
Als er bei Sonnenuntergang die Randbezirke Amsterdams erreichte, nahm er Wollschal und Umhang ab. Das Pferd, das er ritt, war halb tot vor Erschöpfung, und ihm ging es kaum besser. Langsam suchte er sich seinen Weg durch die alten Straßen und entlang der Grachten. Die Herengracht war im siebzehnten Jahrhundert angelegt worden. Die größten und aufwendigsten Häuser waren hier gebaut worden. John hatte darüber nachgedacht, wie er Stephan Sincai am schnellsten finden könnte. Beatrix hatte gesagt, sie habe einst in der Nummer 38 gewohnt. Er hegte die Vermutung, dass Sincai nicht so immun gegen Beatrix war, wie sie glaubte. Er beschloss, bei Nummer 38 zu beginnen und zu sehen, wie sentimental Stephan Sincai war.
John trottete die schmale Straße entlang, die parallel zur Herengracht verlief. Die Grachten rochen nach wucherndem Grünzeug. Nummer 38 war die kunstvolle Kopie eines Loire-Schlosses und aus massivem holländischem Mauerziegel gebaut. Figuren in leicht vorgebeugter Haltung schmückten den Hauptgiebel, und das Erkerfenster war mit Cherubim, Akanthusblättern und mythischen Ungeheuern verziert. Wie passend. Als er abstieg, versagten ihm seine Knie den Dienst. Er hielt sich an den Ledergurten der Steigbügel fest, bis das Schwindelgefühl in seinem Kopf nachließ. Dann ging er mühsam die fünf Stufen zum Portikus hinauf und betätigte den goldenen Türklopfer, der die Form einer Fledermaus mit ausgebreiteten Schwingen hatte. Er stand wohl vor dem richtigen Haus. Sincai schien über ein gewisses Maß an schrulligem Humor zu verfügen.
Der mürrische Diener in grüner Livree, der die Tür öffnete, sah John mit gerunzelter Stirn an. »Lieferanten melden sich an der Hintertür«, sagte er in Hochniederländisch. Er wollte die Tür wieder schließen, als er noch hinzufügte: »Betteln verboten.«
John wurde bewusst, dass er ohne Hut war und denselben schlecht sitzenden Mantel trug, den er beim Pikett gewonnen hatte. Zudem war er vom Staub und Schmutz dreier Länder bedeckt und hatte sich nicht mehr gesäubert, seit Beatrix ihm in einer Dachkammer im Marais den Schweiß vom Körper gewaschen hatte.
Er stieß die Tür mit einer Kraft auf, der der alte Diener nichts entgegenzusetzen hatte. »Ich bin hier, um mit Stephan Sincai zu sprechen«, sagte er und bemühte sich dabei um sein bestes Niederländisch. Es reichte nicht an sein Französisch heran, aber es war passabel. Er war überrascht festzustellen, dass seine Stimme kaum mehr als ein Krächzen war. Wie lange war es her, dass er einen Schluck Wasser getrunken hatte?
»Mijnheer Sincai empfängt niemanden, und schon gar nicht Gesindel und glücklose Kaufleute. Fort mit Ihnen.«
Wieder wollte er die Tür schließen. Aber jetzt wusste John, dass seine Vermutung richtig gewesen war.
»Sagen Sie ihm, ich komme wegen Beatrix Lisse. Er wird mich empfangen. Er muss.« John versuchte, sich seine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. Das würde den alten Diener auch nicht dazu bringen, ihn ins Haus zu lassen.
»Gehen Sie oder ich werde einen Polizisten rufen«, warnte ihn der alte Mann mit erhobener Stimme. »Mijnheer Sincai wird Ihnen keine Almosen geben. Gehen Sie in ein Armenhaus!«
»Lassen Sie den Mann herein, Mechlin«, war eine tiefe Stimme aus dem Inneren des Hauses zu hören.
Sofort wurde das Gesicht des Dieners ausdruckslos. »Jawohl, Mijnheer Sincai.«
John ging an ihm vorbei in ein Foyer, das von einem Kronleuchter mit tausend Kristallen in Licht gebadet war. Der Boden war mit schwarzen und weißen quadratischen Marmorfliesen ausgelegt. Eine elegant geschwungene Treppe zur Rechten führte hinauf in die erste Etage. Dort oben, ans Geländer gelehnt, stand ein Mann, elegant gekleidet in einen schwarzen Rock, der perfekt um seine breiten Schultern saß, einem kompliziert gebundenen gerüschten Krawattentuch und einer eng sitzenden Kniehose. Er war für einen höchst formellen Anlass angezogen. Ein Brillant funkelte in den Falten seines Halstuches, und ein goldener Siegelring mit einem ovalen Rubin schmückte seine rechte Hand. Sein Haar war dunkel, und er trug es lang bis auf die Schultern; seine Wangenknochen
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