Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
unsicher. In ihnen lag ein entschlossenes Funkeln. Er hatte sich entschieden, sie gehen zu lassen, gegen Ashartis Willen, gegen seine eigenen Interessen. Dessen war sie sich ganz sicher.
Er lächelte.
John warf sich neben ihr auf die Knie und riss sie in seine Arme. Sie konnte kaum atmen, aber es fühlte sich gut an, nicht zu atmen. Sein Herz klopfte wild in seiner Brust. Er faselte irgendetwas Zusammenhangloses in ihr Ohr. »Ja«, beruhigte sie. »Ja.«
Ein Mann mit einem Adlergesicht kam die Stufen zur Plattform heraufgelaufen. Meine Güte, es war Khalenberg. Er war blutbesudelt. Wo war der andere Vampir, der hinter ihr gestanden hatte? Oh, da lag seine Leiche. Und sein Kopf? Ja, dort drüben.
Khalenberg riss Jerry herum und sah ihn an. Dann packte er mit beiden Händen seinen Kopf und riss ihn einfach ab. Blut spritzte auf sie. Khalenberg warf Jerrys Kopf neben den anderen.
Der Lärm der Menge wurde Beatrix bewusst. »Sie Ungeheuer!«, schrie sie Khalenberg an und löste sich aus Johns Armen. »Er hat mir das Leben gerettet!«
»Er wurde geschaffen«, bellte Khalenberg und packte sie am Arm. »Zeit zu verschwinden.«
Sie schüttelte den Kopf und machte sich von ihm los. »John«, sagte sie. »John.«
»Ja, ja. Kommen Sie mit, Engländer.« Khalenbergs Hand schloss sich um ihren Oberarm. Schwärze wirbelte auf. Der stechende Schmerz durchfloss sie, und die Place de Grève verschwand.
John keuchte, während der Schmerz nachließ. Der dämmrige Innenraum von Notre-Dame erstreckte sich um ihn. Über sich sah er die große Fensterrose des nördlichen Querschiffs, deren Farben jetzt, bei Nacht, leblos grau waren. Khalenberg und Beatrix hatten sich in der Mitte des Querschiffes materialisiert und waren noch dabei, sich zu orientieren. Eine zweite Schwärze bildete sich direkt unter dem Fenster und löste sich um Asharti und Sincai auf.
»Warum haben Sie sie hergebracht, Sincai?«, blaffte Khalenberg, als Sincai den Kopf schüttelte. Asharti versuchte, sich ihm zu entwinden, sie fauchte wie eine Katze.
»Weil ich für sie verantwortlich bin«, erwiderte Sincai ruhig.
»Dann töten Sie sie jetzt, und die Sache ist vorbei.« Khalenbergs Stimme enthielt nicht die Spur eines Zögerns.
»Ich sehe euch beide in der Hölle wieder«, zischte Asharti. Sie ließ ihre Augen rot aufglühen.
»Meine Liebe, du wirst nirgendwohin gehen.« Sincais Augen blitzten auf, und ihre verblassten. »Nicht einmal in die Hölle. Für den Moment jedenfalls.« Asharti wurde still, als sie begriff, dass Gegenwehr zwecklos war. Sincai ließ ihr Handgelenk los. »So ist es besser. Du bist gewiss so intelligent, deine Situation richtig einschätzen zu können.«
»Sie vor allen anderen muss getötet werden«, beharrte Khalenberg. Sein Gesicht wirkte wie in Stein gemeißelt.
»Es muss schwer sein, wenn man nicht an die Erlösung glaubt, alter Freund.« Sincai sah noch immer Asharti an. »Beatrix? Du kennst sie besser als jeder andere von uns. Soll sie sterben?«
John sah, dass Beatrix still wurde. Würde es nach ihm gehen, er hätte mit dem Daumen nach unten gezeigt und wäre davongegangen, ohne sich noch einmal umzusehen, während man Asharti den Kopf vom Rumpf riss. Beatrix hatte die Auswirkungen von Ashartis Bösartigkeit gerade zu spüren bekommen. Warum zögerte sie?
»Ich kann nicht über sie den Richterspruch fällen«, wisperte Beatrix. »Wie du sagst – du bist für sie verantwortlich.«
»Ich habe schlechte Arbeit geleistet, nicht wahr?« Sincai verbarg seinen Schmerz hinter seinem knappen Ton.
Beatrix sah alle nacheinander an. In Ashartis Augen lag noch immer Trotz. »Keinen von euch hat es gekümmert, was sie als Mensch durchgemacht hat«, sagte Beatrix leise. »Sie hat unfassbare Gräueltaten mit angesehen. Sie wurde vergewaltigt, verletzt. Sie hat das Leiden der Machtlosen gesehen. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass es wieder geschehen könnte. Deshalb hat das Verlangen nach Macht sie aufgefressen. Ist das so schwer zu verstehen?« Sie suchte in den Augen der anderen nach einer Antwort. »Gibt es nicht so etwas wie Wiedergutmachung?«
Asharti sagte nichts, pflichtete ihr nicht bei, verteidigte sich nicht. Aufrecht und stolz stand sie da.
Beatrix holte tief Luft. »Deshalb sage ich: Sie soll leben.«
Khalenberg wandte sich voller Abscheu ab.
John empfand eine seltsame Mischung von Gefühlen in seinem Herzen toben. Asharti würde leben, und das machte ihm Angst; aber er war stolz, dass Beatrix den Mut hatte,
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