Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
der Menschen. Er trieb dem Pferd die Sporen in die Flanken.
Aber all jene, die zu weit entfernt von den Satteltaschen standen, um etwas abzubekommen, gingen jetzt wütend auf ihn los. Das Pferd strauchelte. Hände zerrten an seinen Kleidern. Als John in die rasende Menge stürzte, sah er, dass Khalenberg und Sincai noch zu weit entfernt waren, um den Scharfrichter aufhalten zu können. Zur Hölle mit der Vorsichtsmaßnahme, der Menge ihre Macht nicht zu zeigen – sie sollten sich auf die Plattform translozieren und den Hurensohn töten. Das Bild des Scharfrichters, der nach dem Seil griff, um den Mechanismus auszulösen, brannte sich in sein Gehirn ein. Die Menge schloss sich über ihm, trat ihn, zerriss ihm die Kleider. Frauen kratzten ihn, schrien …
»Gefährte!«, rief er laut. »Um des Himmels willen …«
Er vollendete den Gedanken nicht, denn Kraft flutete durch seine Adern. Er sprang auf, schleuderte einen stämmigen Mann und zwei Frauen von sich. Knurrend drängte er sich zwischen den Leibern hindurch. Ein roter Film legte sich über seine Augen. Sie teilten sich vor ihm wie das Rote Meer vor Moses. Jetzt sah er die Plattform wieder. Beatrix’ schaute von der Lünette aus suchend über die Menge. Der Scharfrichter hielt das Seil mit einer Hand umklammert. Das Fallbeil sah zu schwer aus, zu scharf, zu unausweichlich, um wirklich zu sein.
Die Stimme aus seinen Albträumen schrie: »Tu’s endlich, du Narr!«
Es war Asharti, die auf den Scharfrichter zeigte. Erst jetzt nahm John wahr, dass zwei Vampire hinter Beatrix standen, zusammen mit dem Mann, der zehn Zentimeter ihres schimmernden kastanienbraunen Haars in der Hand hielt. Khalenberg hatte am Fuß der Plattform einen Vampir am Nacken gepackt. Sincai stürzte sich auf Asharti.
John begann so schwerfällig zu rennen wie in einem bösen Traum. Er würde es niemals schaffen. Gefährte! Die Schwärze wirbelte hoch. Er versuchte, sich auf die Stelle neben dem Scharfrichter zu konzentrieren.
Durch die Schwärze sah er, wie der Scharfrichter am Seil riss.
Das Fallbeil sauste zischend herunter.
Zu spät!
John! Es war John, zu Pferde inmitten des tobenden Mobs. Asharti hatte ihn nicht in ihrer Gewalt! Er war zu ihr gekommen! Er hatte sie nicht verlassen!
»John!«, rief sie, aber ihr Ruf ging in dem Getümmel unter.
Der Scharfrichter drückte ihr den Kopf herunter. Sie fühlte die Suggestion über sich hinwegströmen. Sie legte den Nacken in die Lünette. Aber sie wollte nicht sterben. Nicht mehr. Sie rief ihren Gefährten. Ein letztes Mal, mein Freund.
Es war keine Zeit, mehr als das zu denken. Sie wusste, dass sie schwach war. Sie wusste, dass es unmöglich war, wenn Ashartis Vampire ihre Macht blockierten. Aber sie musste es versuchen. Das Drängen in ihren Venen sagte ihr, dass ihr Gefährte das Flehen gehört hatte. Ich bin alt , dachte Beatrix. Älter als jeder andere hier außer Asharti. Ich kann es. Sie hob den Kopf und suchte in der Menge nach John.
Es war der Moment, in dem sie die anderen spürte. Die Vibrationen jener, die älter waren als sie. Sie konzentrierte sich darauf, die Schwärze aufsteigen zu lassen. Zentimeter um Zentimeter stieg sie in ihren Adern herauf. Das Bild vor ihr färbte sich langsam rot. Sie sah, wie John von der Menge vom Pferd gezerrt wurde. Denk nicht daran. Konzentriere dich. Stephan tauchte in der Menschenmenge vor der Guillotine auf und stürzte sich auf Asharti.
»Tu’s, du Narr!«, schrie Asharti und zeigte auf den Scharfrichter.
Beatrix stellte sich gegen die Macht, die ihr tagelang ihre Lebenskraft genommen hatte.
Über sich hörte sie ein Knacken, als der Scharfrichter mit einem Ächzen am Seil riss.
Ein Zischen.
Nein! Gefährte!
Die fremde Macht, die sie bisher festgehalten hatte, gab nach.
Sie riss den Kopf hoch.
Das große Fallbeil fuhr in den Schlitz im Balken, nur zwei Zentimeter von ihrer Nasenspitze entfernt. Der Luftzug blies eine zehn Zentimeter lange kastanienbraune Locke in die Luft. Beatrix rang in kleinen krampfhaften Zügen nach Atem. Die Mauer aus Lärm jenseits des Fallbeils enthielt Schreie und schreckliche animalische Laute, aber sie alle kamen wie aus weiter Ferne. Alles schien ganz langsam abzulaufen. John tauchte aus dem Nichts auf und stieß den Scharfrichter von der Plattform herunter in die Menge. Jerry trat vor. Sie schaute neugierig zu ihm hoch. Seine Augen waren nicht rot. Sie waren blassblau, so, wie sie es in Dover gewesen waren. Aber sie blickten nicht länger
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