Der Ruf des Abendvogels Roman
Gerüche wahr, die ihr mittlerweile so vertraut geworden waren: den warmen Dampf der Pferdeleiber, frisches Heu und Lederseife, die Überreste der Fleischspieße, abgestandener Wein und nicht zuletzt der betörende Duft der Öle, mit denen die Zigeunerinnen ihre Körper einrieben.
Auf dem Weg zu ihrem Ziel, dem Mountjoy-Gefängnis, war Tara von einer seltsamen Vorahnung erfüllt. Alles, was ihr während der vergangenen Jahre so vertraut geworden war, würde für sie bald Vergangenheit sein. Obwohl ihr das Herz bei dem Gedanken daran schwer wurde und sie versucht hatte, das Unvermeidliche zu verdrängen, wusste sie doch, es war an der Zeit, weiterzuziehen.
Während der letzten beiden Wochen zuvor hatte sie unter den Zigeunern eine wachsende Spannung gespürt. Viele, besonders die Männer, verhielten sich ihr gegenüber plötzlich kühler, und sie hatte schon des Öfteren feindselige Blicke bemerkt und gesehen, dass hinter ihrem Rücken über sie getuschelt wurde. Auch die Frauen, mit denen sie normalerweise recht gut auskam, waren ihr gegenüber plötzlich verschlossen und hielten Abstand.
Tara war sich immer bewusst gewesen, dass der Zusammenhaltder Zigeuner untereinander unverbrüchlich war. Trotz ihrer Heirat mit Garvie Flynn hatten sie sie nur allzu deutlich spüren lassen, dass sie nicht von ihrem Blut war. Aber am meisten störte die Gruppe, vor allem in solch harten Zeiten wie dieser, dass sie ihnen kein Geld einbrachte.
Jetzt, wo Garvie wieder einmal im Gefängnis saß, war Tara für die anderen zu einer Last geworden. Und genau das war der Grund dafür, dass es sie forttrieb. Jake, der die Sippe anführte, seit Rory krank war, hatte Zwietracht gesät. Rory war älter und weiser, und bei ihm konnte man sich immer darauf verlassen, dass er in Entscheidungen, die die Gruppe betrafen, Gerechtigkeit walten ließ. Jake dagegen war anders: körperlich sehr stark und ebenso stur. In Rorys Abwesenheit wagte ihm niemand die Stirn zu bieten.
Am vorangegangenen Abend, als alle anderen schon geschlafen hatten, hatte Jake Tara vor ihrem Wohnwagen abgefangen. Sie glaubte, dass er sie beobachtet und dort erwartet hatte. Sie hegte sogar den Verdacht, dass er sie in der Grafton Street erkannt hatte. Die bloße Erinnerung an die Begegnung ließ sie erschaudern.
Auf dem Weg in die Stadt dachte sie noch einmal über das Gespräch mit ihm nach. Jake hatte sie in der Dunkelheit zu Tode erschreckt, als sie gerade einen Eimer neben ihrem Wohnwagen ausleerte.
»Dein Mann steht in meiner Schuld, und ich will mein Geld«, hatte er aus dem Dunkel heraus plötzlich gesagt. Tara hatte sich ihren Schrecken nicht anmerken lassen. Sie hatte sich langsam aufgerichtet und ihm so ruhig wie möglich entgegnet: »Er hat dir schon öfter Geld geschuldet. Du weißt, dass du es bekommst.«
Jake hatte einen Schritt auf sie zu getan und war aus dem Dunkel zu ihr ins Mondlicht getreten. Seine dunklen Augen waren schmal geworden, und er hatte seinen Blick langsam an ihrem Körper hinunterwandern lassen. Sie hatte die Art, wie er sie anstarrte, immer gehasst. Es war der gleiche Blick, mit dem man auf einem Viehmarkt Pferde taxierte, so taktlos und erniedrigend, dass er ihr eine Gänsehaut verursachte.
Die Tatsache, dass Garvie Jake angeblich Geld schuldete, war keine Überraschung für sie. Es hatte im Lager Gerüchte darüber gegeben, und ihr Mann hatte schon öfter etwas von Jake geliehen. Doch Tara fragte sich, warum Jake diesmal nicht warten konnte, bis Garvie zurückkam, wie er es sonst tat. Sie spürte seine fast mit Händen zu greifende Ungeduld, und das beunruhigte sie. Schließlich zahlte ihr Mann seine Schulden immer zurück, sobald er aus dem Gefängnis heraus war und Arbeit gefunden hatte – warum sollte das dieses Mal anders sein?
»Du kannst nächste Woche auf dem Pferdemarkt in Cork für mich tanzen«, schlug Jake in kühlem Ton vor. »Und auf allen anderen Märkten auch, bis die Schuld bezahlt ist.«
Seine Arroganz machte Tara zornig. Sie spürte, dass er die Gelegenheit nutzen wollte, Macht über sie zu gewinnen, etwas, was sie niemals zulassen würde. »Ich tanze nicht für Geld«, gab sie entschlossen zurück. »Und ich werde Dublin nicht verlassen, bevor Garvie nicht wieder frei ist.«
Jake wandte sich für einen Augenblick ab, die Kiefer fest aufeinander gepresst, als grüble er über etwas nach. Als er sie wieder ansah, war er sehr wütend. »Du wirst mich irgendwie bezahlen, Mädchen. Ich schlage vor, du überlegst dir,
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