Der Ruf des Abendvogels Roman
deinen roten Haaren – sie gelten als böses Omen.«
Tara war zutiefst verwirrt. So etwas hatte sie nie zuvor gehört, und sie lebte immerhin seit elf Jahren mit den Zigeunern. Ganz sicher spann sich Eloisa da etwas zusammen!
»Sie mögen mich nicht, weil ich keine von ihnen bin – kein Zigeunerblut in den Adern habe«, erwiderte sie, bemüht, Eloisa zu überzeugen.
Die alte Frau beugte sich zu ihr vor, und Tara spürte den Geruch von Knoblauch und Kräutern in ihrem Atem. »Und ob du Zigeunerblut in dir hast, meine Liebe – edles Zigeunerblut!«
Wieder fühlte sich Tara vollkommen verwirrt. Die alte Frau konnte wirklich nicht ganz bei Sinnen sein. »Nein, Eloisa – ich bin eine Killain. Mein Vater ist ein wohlhabender Landbesitzer!«
»Du hast Zigeunerblut in dir, mein Mädchen. Daher hast du auch deine seherische Gabe. Bevor du heute kamst, hatte ich eine Vision, und als ich aufblickte, habe ich um deinen Kopf eine Aura gesehen. Also warst du die Person in meiner Vision.«
Tara sprang hastig auf und warf dabei ihre Schale mit dem Weizenbrei um. »Ich muss gehen«, erklärte sie und eilte auch schon zu ihrem Pferd hinüber, um aufzusteigen. Das Herz hämmerte ihr wie wild gegen die Rippen, doch das lag nicht nur an dem, was Eloisa ihr gesagt hatte: Es war für sie wie ein Zwang gewesen, hierher zu kommen – sie hatte keine Wahl gehabt.
Im Davonreiten hörte sie Eloisa rufen: »Frag deine Mutter, Mädchen – sie weiß Bescheid.«
Tara ritt so schnell die Straße hinunter, wie ihr Pferd zu laufenimstande war, doch sie vermochte dem Nachhall von Eloisas Worten nicht zu entkommen. Fragen, auf die es keine Antworten gab, geisterten so rasch durch ihre Gedanken, dass ihr schwindelig wurde. Sie hatte sich immer gefragt, warum ihre Haut so dunkel war, doch ihre Mutter hatte ihr nur unbestimmt entgegnet, es müsse eben in irgendeinem Zweig der Verwandtschaft südländisches Blut gegeben haben.
Elsa hatte rote Haare, aber anders als ihr eigenes war es von eher blassem Ton. Elsas Augen waren hellgrün, ihre Brauen so blond, dass man sie kaum sah. Taras Haare dagegen glänzten in einem satten Kupferton, in den sich auch kastanienbraune Akzente mischten. Ihre Brauen über den smaragdgrünen Augen waren fast schwarz und schön geschwungen. Aber dass in ihren Adern Zigeunerblut fließen sollte, nein, das konnte doch nicht sein! Ihre Mutter hatte immer Vorurteile gegen das fahrende Volk gehabt. Sogar die bloße Erwähnung von Zigeunern hatte sie gestört. Tara schloss daraus, dass Eloisa sich geirrt haben musste. Was die alte Frau gesagt hatte, war ganz einfach nicht möglich.
Vor langer Zeit schon hatte Garvie Tara gebeten, den Gerichtsverhandlungen fernzubleiben, ihn auch nicht im Gefängnis zu besuchen, und in diesem Punkt blieb er absolut unnachgiebig. Zigeuner wurden in irischen Haftanstalten entsetzlich schlecht behandelt, und ihre Frauen mussten Kränkungen und Misshandlungen über sich ergehen lassen. Er selbst hatte keine andere Wahl, als alles zu ertragen, aber er wollte lieber verdammt sein, als Tara unter derselben furchtbaren Behandlung leiden zu sehen, wie andere Zigeunerfrauen sie erdulden mussten.
Tara war empfindsamer als die Romafrauen, obwohl sie niemals etwas davon hatte hören wollen. Solche Reden gaben ihr das Gefühl, eine Außenseiterin zu sein. – Nie hatte sie sich etwas so verzweifelt gewünscht, wie zur Gruppe zu gehören, die für sie eine große Familie darstellte. Doch ihr Wunsch war nie in Erfüllung gegangen.
Trotz ihres Eigensinns hatte Tara Garvies Wünschen gehorcht und ihn niemals zuvor besucht. Der Gedanke, ein Gefängnis zu betreten, und sei es auch nur ganz kurz, war ihr absolut zuwider. In der ersten Zeit ihrer Beziehung hatte sie Garvie jedes Mal furchtbar vermisst, sich jedoch schließlich an seine häufige Abwesenheit gewöhnt.
Heute aber hatte sie keine andere Wahl. Sie brauchte Garvies Rat und hoffte, herauszufinden, warum Jake auf einmal so ungeduldig geworden war. Außerdem meinte sie, ihr Mann habe ein Recht darauf, von ihren Plänen zu erfahren.
Das Mountjoy-Gefängnis verunsicherte Tara vollkommen. Garvie war auch schon in den Gefängnissen von Limerick und Cork gewesen, doch Mountjoy war bei weitem das größte Gefängnis in Irland. Hier saßen männliche Gefangene und Untersuchungshäftlinge ein. Die weiblichen Häftlinge waren in der benachbarten Anstalt St. Patrick untergebracht.
Mountjoy war etwa in der Mitte des 18. Jahrhundert erbaut worden und bestand
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