Der Ruf des Abendvogels Roman
allgemein als ziemlich verrückt. Viele fürchteten sie wegen ihres seltsamen Verhaltens und mieden sie, wodurch sie gezwungen war, das Leben einer Einsiedlerin zu führen.
Tara hatte sie immer Leid getan. Es ging das Gerücht, Eloisa sei von einer Hexe verzaubert worden, weil sie einer Tochter aus reichem Haus einen Trank gegen morgendliche Übelkeitverabreicht habe. Der Trank hatte eine Fehlgeburt ausgelöst und das Mädchen umgebracht.
Obwohl die Schwangere in Wirklichkeit gegen Holunder allergisch gewesen war, hatten die abergläubischen Zigeuner Eloisa von da an für alles Übel verantwortlich gemacht, das sie befiel. Sogar die Siedler fürchteten sie – doch nicht so Tara.
Wann immer sie allein war und die Ausgestoßene traf, hielt sie an, um mit ihr zu sprechen. An diesem Tag jedoch fühlte sie sich irgendwie befangen, und beim Absteigen wurde ihr plötzlich klar, dass sie sich vielleicht bald in derselben Rolle wieder finden würde wie Eloisa: von den Zigeunern ausgestoßen.
Die alte Frau trug ein helles Kopftuch, unter dem einige ihrer grauen Haarsträhnen und riesige Ohrringe hervorlugten. Sie war in ein dickes Tuch gewickelt und saß zusammengesunken am Feuer, einen Becher Tee in der Hand. Ihre Fingernägel waren einige Zentimeter lang und in der Farbe getrockneten Blutes lackiert. Auf dem Zinnbecher wirkten sie wie Klauen eines Adlers. Tief in Gedanken versunken klopfte sie mit einem ihrer vielen Ringe rhythmisch gegen das Metall des Trinkgefäßes. Während sie abwesend in die Flammen starrte, schien sie Tara überhaupt nicht zu bemerken. Über dem Feuer hing ein gusseiserner Topf mit Weizenbrei, dessen Duft Taras Hunger weckte.
»Hallo, Eloisa!«, sagte Tara leise. Zuerst glaubte sie, die alte Frau habe sie gar nicht gehört, doch dann wandte diese langsam den Kopf, ihre Augen weiteten sich und sie zuckte erschrocken zusammen.
»Ich bin es nur, Eloisa«, rief die Jüngere. »Tara Flynn. Wir haben uns schon öfter unterhalten ...«
Die alte Frau ließ ihren Becher fallen, dessen Inhalt sich in die Flammen ergoss. Mühsam erhob sie sich mithilfe eines knorrigen Stocks. Sie schien auf etwas über Taras Kopf zu starren, dann fuhr sie mit der freien Hand auf deren Gesicht zu und murmelte etwas Unverständliches.
Tara wich vor ihren klauenartigen Nägeln zurück. »Eloisa!«
Plötzlich hielt die alte Frau inne, blickte Tara in die Augen, und ihr Arm fiel schwer herab. Ihre Krallen fuhren ziellos durch die Luft. »Du siehst es, nicht wahr? Du siehst, was niemand anders sehen kann!«
Tara schüttelte den Kopf.
Die alte Frau wandte sich um und ging zurück zum Feuer, wo sie sich wieder niederließ. Die Jüngere blieb stehen und starrte sie verwirrt an. Die unterschiedlichsten Gedanken schossen ihr durch den Kopf, und sie kam zu dem Schluss, dass die alte Frau bei ihrem Eintreffen über irgendetwas nachgedacht haben musste und nun verwirrt war.
Eloisa goss heißen, angenehm duftenden Tee in einen Becher und wandte sich ihr zu. »Willst du mit mir frühstücken?«
Tara fühlte sich noch immer ein wenig zittrig, doch sie antwortete: »Ja, gern, danke.«
»Wohin bist du unterwegs?«, fragte Eloisa plötzlich ganz vernünftig. Mit einem Löffel füllte sie den dickflüssigen Weizenbrei in eine Schale, um dann etwas darüber zu streuen, was aussah wie Teile von Fingernägeln, und einen Schuss Milch hinzuzugeben.
»Ich will meinen Mann besuchen«, gab Tara zurück. Plötzlich war ihr jeder Appetit vergangen.
Eloisa blickte sie an. »Ist er im ›Mount‹?«
Unsicher, was sie antworten sollte, und überrascht, dass Eloisa Garvies Aufenthaltsort kannte, nickte Tara. Die alte Frau hielt den eindringlichen Blick ihrer dunklen Augen auch weiterhin auf Tara gerichtet. Ihre Nase war schmal und gebogen, was ihr das Aussehen eines Raubvogels verlieh. »Dich bedrückt etwas!«, stellte sie fest.
Wieder nickte Tara. »Aber ich komme schon damit zurecht.«
»Das wirst du auch – und du weißt es, oder? Du weißt, was kommt?«
Tara sah Eloisa erschrocken an, bevor sie sagte: »Ja, du hast Recht. Die Zigeuner werden mich auffordern, die Gruppe zu verlassen.« Sie war erleichtert, endlich mit jemandem darüber redenzu können, jemandem, der sie verstehen würde. »Ich habe keine Ahnung, was ich tun werde.«
»Sie fürchten dich«, murmelte Eloisa.
»Nein«, gab Tara zurück.
»Oh doch, das tun sie!«
»Und warum?«
»Du bist eine Seherin – eine von den Auserwählten. Aber die Zigeuner haben Angst vor
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