Der Ruf des Bösen: Die Erleuchtete 2 - Roman (German Edition)
Laden unterhalb der Schienen und gingen dann die von schäbigen Gässchen gesäumte South Michigan Avenue entlang, die von Block zu Block immer leerer wurde. Jeder Zentimeter des Himmels war grau, und der Wind peitschte uns so um die Ohren, dass der grausame, eisige Chicagoer Winter unseren Pilgerfahrten vermutlich sowieso irgendwann ein Ende gemacht hätte, auch wenn wir nicht bald für die nächsten Monate in Richtung Süden fliegen würden.
Louisiana. In etwas mehr als einer Woche würden wir uns auf den Weg machen. Wir hatten uns als Freiwillige für ein Schülerprogramm in New Orleans gemeldet, würden dort an gemeinnützigen Projekten teilnehmen und, so konnte ich nur vermuten, wohl auch das eine oder andere Abenteuer erleben. Einmal hatte ich mit meiner Adoptivmutter in Florida Disney World besucht, aber abgesehen davon hatte ich es nie weiter südlich als bis zu unserer Cousine in Evansville, Indiana, geschafft. Und: Sicher, ich hatte schon einmal auswärts gewohnt, aber das war ja nur in Chicago gewesen. Was auch immer im Lexington geschehen war, die unmittelbare Nähe zu meinem Zuhause war mir immer ein Trost gewesen. Aber jetzt … New Orleans? Mein Puls beschleunigte sich.
Ich kuschelte mich tiefer in meine Jacke und lugte unter meinen langen Haaren nach links zu Dante hinüber, der den Himmel betrachtete, und dann nach rechts zu Lance, der die Hände in den Taschen vergraben hatte und auf den Gehsteig starrte. Keiner von uns hatte ein Wort gesprochen, seit wir in Evanston in die L gestiegen waren. Das war vermutlich ein Zeichen dafür, dass uns allen dasselbe durch den Kopf ging.
Wir bogen um eine Ecke und standen vor dem Trümmerhaufen, der einmal das Lexington gewesen war. Jetzt konnte man sich kaum vorstellen, dass sich hier einst die flatternde Markise über der stattlichen Eingangstreppe erstreckt hatte oder dass sich Fensterreihen Stockwerk um Stockwerk in den Himmel erstreckt hatten. Das Gebäude war so komplett zerstört, als wäre darin eine Bombe explodiert. Vom Erdgeschoss waren nur noch zerklüftete Trümmer übrig, hier und da ragten Teile der Fassade spitz hervor. Der Rest des Giganten war zu einem riesigen Berg seltsam geformter Stücke reduziert worden, wie die Teile dieser 3-D-Puzzles von architektonischen Wahrzeichen, die Lance so gern machte und dann in seinem Zimmer zur Schau stellte.
Für die Zeitungen war die Tragödie ein gefundenes Fressen gewesen. Direkt nach den Ereignissen hatten sie die glamouröse Besitzerin des Hotels, Aurelia Brown, in den Himmel gelobt. Auch ihr Stellvertreter, Lucian Grove, war angeblich in den Flammen ums Leben gekommen, zusammen mit dem unglaublich attraktiven, aber zugleich unheimlichen Personal, das wir als »das Syndikat« kannten. Lucian . Selbst jetzt fiel es mir immer noch schwer, an ihn zu denken, mir vorzustellen, was wohl aus ihm geworden war. Ich musste die Erinnerungen an ihn verdrängen, wann immer er sich in meine Gedanken einschlich. Sein Verlust tat weh. Ich hatte jeden einzelnen Zeitungsartikel ausgedruckt, ihn einmal überflogen und ihn dann in einem Umschlag unter meinem Bett verstaut.
Weniger schmerzhaft lasen sich die neueren Texte, in denen darüber spekuliert wurde, was man wohl nun mit diesem geheiligten Boden anfangen würde. Es war die Rede davon, das Hotel eines Tages wieder zu eröffnen, aber im Moment lag das Grundstück noch völlig unberührt da. Und damit fühlte es sich so an, als würde es ein kleines bisschen uns gehören.
Verbrannte Überreste von Terrakotta, Stein und Ziegeln knirschten unter unseren Turnschuhen, als wir bis zu unserem Lieblingsschutthaufen hinaufkletterten und uns dort an einen verbogenen Stahlträger schmiegten, der uns Sitzplätze wie in einem Stadion bot. Von da aus konnten wir in einen Riss hineingucken, in dem man an sonnigen Tagen die Kristalle des großen Kronleuchters der Lobby glitzern sah. Es war der letzte Hauch von Reichtum und Überfluss an diesem Ort, der uns einst so schwer beeindruckt hatte und an dem wir uns verliebt hatten, nur um schließlich festzustellen, dass uns diese Menschen, von denen wir uns blenden ließen, in ihre dunklen Machenschaften mit hineinziehen wollten. Und dass sie in Wirklichkeit nicht einmal Menschen waren, sondern Teufel, die einst wie wir begonnen hatten, dann aber vom Weg abgekommen waren und jetzt ihre Tage damit verbrachten, Seelen zu kaufen, Wünsche zu erfüllen und die Bekehrten zum Schluss auf alle Ewigkeit in die Unterwelt zu verbannen.
In ein
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