Der Ruf des Kolibris
Deutschland.«
Ich war erstaunt. »Sie wollte dich wirklich mitnehmen?«
Clara nickte. »Sie hat gesagt, ich sei zu begabt, um in den Bergen zu versauern. Ich ... ich habe sie sehr geliebt. Aber Tano war ... er war stärker.«
»Er hat sie entführt?«
Clara schwieg. Sie versuchte krampfhaft auszuatmen, hatte aber das Spray noch nicht genommen.
»Und du weißt, wo er sie gefangen hält?«, fragte ich weiter.
Sie nickte.
»Wo?«
Tränen rannen Clara über das Gesicht. »Wahrscheinlich ist sie schon lange tot. Anfangs hat Tano mir gedroht, dass sie leiden müsse, wenn ich weiter gegen ihn aufbegehre. Aber seit einem Jahr hat er sie nicht mehr erwähnt, wenn ich mit ihm diskutiert habe. Ich bin sicher, dass sie tot ist. Sonst wäre ich niemals mit euch gegangen. Aber vielleicht habe ich mich geirrt und er hat sie erst jetzt getötet.«
»Sicher nicht«, behauptete ich. »Sonst hätte Damián sich nicht für dich opfern müssen. Er ist doch geblieben, damit du gehen konntest, nicht wahr?«
Clara nickte und beruhigte sich wieder etwas.
»Und wo«, fragte ich noch einmal, »wo hat er sie gefangen gehalten?«
»Du kennst den Ort nicht. Es ist ein verborgenes Camp, das in einem Tal liegt, das Yu’ cjuch heißt.«
»Schwarzes Wasser.« So viel verstand ich inzwischen.
de
– 31 –
I n der Schulbibliothek und im Internet versuchte ich herauszufinden, wie der spanische Name des Ortes lautete und wo er lag, aber ein Agua Negra fand ich nirgendwo. Schließlich erinnerte ich mich an den Professor für Anthropologie, den Felicity Melroy schon zweimal erwähnt hatte. Wer, wenn nicht so einer, kannte die spanischen Entsprechungen zu den Namen, die die Ureinwohner ihrer Gegend gegeben hatten? Ich rief Felicity Melroy an.
»Ja, klar«, sagte sie, »ich stelle dir den Kontakt her. Graham hockt gern bis in die Nacht über seinen Büchern in der Uni. Graham Torres y Torres, heißt er. Er wird dich sicher gern nach der Schule empfangen. Ich frage ihn und rufe dich dann wieder an. Und es bleibt bei unserem Ausflug? Am übernächsten Wochenende?«
»Ja«, sagte ich.
»Über die Finanzen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du bist von mir eingeladen.«
Das hatte ich mir noch gar nicht überlegt. Es war beschämend und beruhigend. Mochte sein, dass meine Eltern mir was zustecken würden, aber bitten würde ich sie nicht. Dabei war ich chronisch knapp bei Kasse. Clara hatte allerdings noch weniger. Mit ein paar meiner Klamotten hatte ich ihr schon aushelfen können, aber ein paar Sachen hatte ich ihr auch gekauft, Dinge, die alle Mädchen besaßen: einen Haartrockner zum Beispiel, Tampons, die ihre Oma ihr bestimmt nicht gekauft hätte, weil sie ihr den Gebrauch nicht erklären konnte, und Zeitschriften und Bücher, immer wieder Bücher. Clara hatte sich so lange für jede Kleinigkeit bei mir bedankt, bis ich ihr einmal erklärt hatte: »Es ist nur Geld! Dafür bedankt man sich nicht.«
»Ist das eine Regel bei euch?«, hatte sie mit einem Augenzwinkern zurückgefragt.
»Ja, bei uns ist das so.«
Und wir hatten gelacht. Nachdem wir uns gegenseitig so oft hatten erklären müssen, welche Bräuche bei ihr und bei uns herrschten, war ein Spiel daraus entstanden. »Das ist eine Regel bei uns!«, sagten wir, wenn die eine von uns nicht wollte, dass die andere groß Fragen stellte.
»Danke für jetzt und immer«, hatte Clara erwidert und sich danach nie wieder für das Kleingeld bedankt, dass ich für sie ausgab. Als Juanita mitbekam, dass ich Claras Bücher bezahlte, kam bei ihr auf einmal auch Geld zum Vorschein. Immer in kleinen Scheinen. Sie verkaufe viel Tee und Kräuter auf der Straße, erklärte sie uns. Sie war in der Tat oft den ganzen Tag außer Haus.
Felicity rief mich am folgenden Tag an und teilte mir mit, dass ich Professor Graham Torres y Torres am Montagabend in seinem Büro in der Universidad Nacional antreffen würde. Er sei informiert und warte auf mich.
Vorher musste ich noch ein Wochenende herumbringen. Elena und John Green wollten Samstagabend in La Candelaria zu einem Jazzkonzert. Elena hatte mich gedrängt mitzukommen. Aber Jazz! Ätzend! Elena redete seit Wochen ständig über John, was er alles machte, dass er neun Jahre älter war als sie, über britische Lebensart und all das. Sie hatte jedenfalls kein Problem mit dem Namen John. Sie war verknallt. Warum sie mich dann unbedingt dabeihaben wollte, verstand ich nicht.
Am Vormittag saß ich auf dem Balkon vor meinem Zimmer, überlegte,
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