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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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ob ich am Abend wirklich mit den beiden durch La Candelaria ziehen wollte, und schaute in die Grünanlagen hinab. Ein junger Mann war dort zugange. Er trug beigefarbene Hosen und ein enges T-Shirt, das seine schmalen Hüften und den sportlichen Oberkörper betonte. Seine Haut schimmerte bronzefarben in der Sonne, sein Haar war kurz und schwarz.
    In der ersten Sekunde schoss mir das Herz förmlich zum Hals heraus, doch dann drehte er sich um, und meine Erregung fiel in sich zusammen wie ein Strohfeuer. Der Junge sah auch gut aus, stellte ich fest, als ich wieder ruhiger atmen konnte. Aber er löste in mir nicht das aus, was Damián in mir ausgelöst hatte: gleich beim ersten Anblick. Mein ganzer Organismus hatte gestoppt. Und beim Neustart war ich eine andere gewesen.
    Aber ich stand nicht auf Indios. Ich war nicht eine von den Weißen, die dunkle Haut und muskulöse Indiokörper grundsätzlich attraktiv fanden. Nein, ich hatte mich in Damián verliebt, in ihn als Person.
    Am Abend kamen Elena und John Green, um mich abzuholen. Elena wusste, dass sie meine Eltern fragen musste, ob ich mitdürfte, denn ich würde sie nicht fragen. Es war mir auch total gleichgültig, ob sie mir die Erlaubnis erteilten. Genau deshalb erlaubten sie es mir. John Green, der Militärattaché, war ja dabei. Mein Vater fragte mich sogar, ob ich genügend Geld hätte, und gab mir was.
    Der Militärattaché war schon gegen elf ziemlich betrunken. So viel zu unserem volljährigen Aufpasser. Wir schleppten ihn durch die engen Gassen der Altstadt und setzten ihn in ein Taxi.
    Wahrscheinlich lag es daran, dass Elena und ich auch einiges getrunken hatten, jedenfalls erzählte ich ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass ich vielleicht wüsste, wo die deutsche Geisel Susanne Schuster gefangen gehalten wurde, und dass ich am Montag einen Professor für indigene Kulturen treffen würde, der vielleicht helfen konnte, den Ort zu identifizieren. Elena regte sich fürchterlich auf und schrie mich immer wieder an, das müsse ich den Behörden melden, wenigstens der deutschen Botschaft.
    »Die wissen das doch längst«, widersprach ich. »Die haben Undercover-Leute in die FARC eingeschleust und von Hubschraubern aus längst alle Camps in den Wäldern fotografiert.«
    »Und wenn nicht? Du musst es der Polizei sagen!«
    »Vermutlich ist Susanne längst tot.«
    »Und wenn nicht? Es hat doch im Februar einen Versuch gegeben, sie freizukaufen. Aber dann hat die FARC einen Rückzieher gemacht, weil zu viel Militär in der Gegend war.«
    »Eben! Das Militär ballert immer gleich herum. Deshalb darfst du niemandem davon erzählen, Elena. Hörst du!« Ich hatte plötzlich das Gefühl, den schwersten Fehler meines Lebens gemacht zu haben. »Das musst du mir versprechen.«
    Sie versprach es hoch und heilig. Und bis heute glaube ich, dass sie ihr Versprechen gehalten hat.
    Am Montagmorgen war mein Vater schon weg. Meiner Mutter sagte ich, dass ich nach der Schule noch zu Clara gehen würde. Sie nickte. Sie hatte wieder einmal Migräne und würde wohl nicht ins Labor gehen. »Aber um sechs bist du zu Hause«, sagte sie wie immer. Grundsätzlich musste ich bei Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein
    Nach der Schule fuhr ich zur Universidad Nacional. Das Gelände der Staatlichen Universität war eine Oase in der Stadt, ruhig und entspannt. Im Park liefen verwilderte Pferde und eine Kuh herum und schauten den Joggern nach, die abends die Wege bevölkerten. Ich musste ein bisschen herumfragen, bis ich das Gebäude der Anthropologen fand. Dass das rote Klinkergebäude das Institut der Wirtschaftswissenschaftler enthielt, wusste ich damals noch nicht.
    Eine Studentin nannte mir die Zimmernummer von Professor Graham Torres y Torres. Ich stieg eine Treppe hinauf und bog um eine Ecke. Ein langer Gang dehnte sich schummrig vor mir. Vor einem Schwarzen Brett am Ende des Gangs im Gegenlicht eines Fensters stand ein Student und las die Anschläge.
    Mein Herz setzte aus. »Damián?« Ich weiß nicht, ob ich es sagte oder nur dachte.
    Er drehte den Kopf. Das Gesicht lag im Schatten des Gegenlichts, schwarzes Haar schimmerte. Er trug Jeans, die ihm locker auf den schmalen Hüften saßen, darüber ein T-Shirt und eine der blauen Wetterjacken, wie sie jeder Zweite trug. Über der Schulter hing ein Rucksack.
    Es war anders als am Samstag auf dem Balkon, als ich beim Anblick eines fremden Gärtners erschrak. Diesmal war ich absolut sicher. Es war gar keine Frage. Es war Damián. Seine

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