Der Ruf des Kolibris
Gestalt hätte ich überall wiedererkannt. Sie war in meine Seele eingebrannt, sie erzeugte unweigerlich Schwingungen von Glück und Sicherheit. Vielleicht war es auch nicht so sehr seine Gestalt als vielmehr diese Art, sich zu bewegen, so kraftvoll und leicht und doch nie lässig.
Zwei Sekunden standen wir unbeweglich oder war es nur der Bruchteil einer Sekunde oder eine Ewigkeit? Dann war der Spuk vorbei. Der Student war verschwunden. Schnell und leise, als hätte er den kleinen Moment von Blindheit eines Wimpernschlags genutzt, um sich unsichtbar zu machen.
Hätte ich bis dahin noch gezweifelt, wäre ich mir jetzt sicher gewesen. So verschwinden konnte nur Damián, und nur er hätte einen Grund gehabt, sich bei meinem Anblick in Luft aufzulösen.
Ich rannte los, den Gang entlang. Aber ich, eine Weiße, war zu langsam, zu trampelig, um einen Indianer einzuholen. Ich stieß auf eine Tür zu einem Treppenhaus und lauschte. Es waren keinerlei Tritte auf den Stufen mehr zu hören.
Mir wurden die Knie weich. Ich riss das Fenster am Ende des Gangs auf und holte tief Luft. Das Rauschen der riesigen Stadt drang herein. Also war Damián doch wieder in Bogotá, dachte ich. Aber wenn er wieder hier war, wieso wussten dann Clara und Juanita nichts davon? Oder hatten sie es mir nur verschwiegen? Oder war das eben doch nur ein Spuk gewesen? Eine Halluzination?
Benommen klopfte ich an der Tür des Professors. Graham Torres y Torres war ein älterer Herr in Karohemd und Jeans und empfing mich freundlich lachend. Er hatte einen Bart wie viele spanische Professoren, war aber groß gewachsen wie ein Engländer. Er war das Abbild der englisch-spanischen Mischung seines Namens.
»Ich kenne Ihren Vater, Miss Auweiler«, begrüßte er mich. »Ich habe mich auf dem Diplomatenball mit ihm unterhalten. Ihr Vater ist ein kluger Mann mit vielen Idealen. Wie weit ist er denn mit seinem mobilen medizinischen Dienst gekommen?«
»Zwei Wagen gibt es schon, die in den Slums unterwegs sind, soviel ich weiß«, antwortete mein kommunikativer Autopilot. »Leandro ... ich meine Señor Perea finanziert sie.«
»Solche Männer sollte es mehr geben. Setzen Sie sich. Was darf ich Ihnen anbieten? Ich fürchte, außer Kaffee und Wasser habe ich nichts.«
»Nichts, danke, Herr Professor.«
»Nennen Sie mich Graham. Sie heißen Jasmin, nicht wahr? Freut mich sehr. Felicity hat mir erzählt, dass Sie in den Sommerferien die Sprache der Páez oder Nasas studiert haben. Es ist selten, dass sich deutsche Schülerinnen für die indianischen Sprachen interessieren. Sie haben meist alle Hände voll damit zu tun, Spanisch zu lernen. Sie müssen ziemlich sprachbegabt sein. Sie haben ein kleines Lexikon und eine Grammatik verfasst, hat mir Felicity erzählt. Haben Sie sie dabei? Ich bin schon sehr neugierig darauf.«
So schwatzte er freundlich vor sich hin, während er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm, auf dem sich Bücher türmten. Er wies mir einen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs zu, auf dem, wie ich vermutete, normalerweise seine Studenten Platz nahmen. Ich gab ihm meinen Hefter mit dem Wörterbuch.
»Sehr schön!«, murmelte er blätternd. »Vorzüglich ... Ach, interessant!« Sein Murmeln wurde immer leiser in dem Maß, wie er sich festlas, und verstummte dann ganz. Ich weiß nicht, wie lange wir schweigend saßen. Es war mir recht. So konnte ich meine Gedanken ungestört der Begegnung auf dem Gang zuwenden. Und es waren keine angenehmen Gedanken. Damián hatte die Flucht ergriffen. Er wollte mich nicht sehen, nicht mit mir sprechen. Das musste ich endlich akzeptieren. Es war aus. Und ich würde ihn auch nicht in Tierradentro treffen, selbst wenn ich ihm eine E-Mail geschickt hätte oder schicken würde und selbst wenn Elena oder Felicity oder das Schicksal für mich intrigiert hätte. Er wollte mich nicht sehen. Ich sagte mir im Kopf jedes einzelne Wort vor: »Er ... will ... dich ... nicht ... sehen! Finde dich damit ab. Vergiss ihn.«
»Jasmin!«
Ich schreckte aus meinen Gedanken. Der Professor blickte mich mit großen blauen Augen an. Er sah aus, als hätte er schon mehrmals gerufen.
»Ja?«, sagte ich.
Was mache ich eigentlich hier?, fragte ich mich. Mein Hirn war wie leergefegt. Nichts von dem, was bis eben noch Bedeutung gehabt hatte, war jetzt noch wichtig. Es war völlig gleichgültig, was mit mir geschah oder mit einer gewissen Susanne Schuster oder mit meinen Eltern. Es war nicht mehr wichtig, was meine Eltern
Weitere Kostenlose Bücher