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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Hand zu sich auf den Bauch gezogen und spielte mit meinen Fingern.
    Nach dieser ersten Begegnung hatte er sich über mich keine weiteren Gedanken gemacht. Es lag völlig außerhalb seiner Vorstellungskraft, mich wiedersehen oder gar mit mir ausgehen zu wollen. Aber das Paar blauer Augen und die Maisblütenfarbe meiner Haare hatte er nicht vergessen. Sie erleuchteten in den folgenden zwei Tagen plötzlich seinen Sinn. Dann hielt er beim Reparieren von Jalousien oder Säubern der Schultoiletten plötzlich inne und lächelte. Ihm war, als sei ein Kolibri auf seiner Hand gelandet, hätte sich ein bisschen das schimmernde Gefieder geputzt und sei dann weitergeflogen.
    Dann sah er mich auf dem Campus der Schule zusammen mit Elena, der Tochter des Gran Guaquero, eines der reichsten Männer Kolumbiens. Plötzlich fiel ihm ein, dass er mich auch vor unserer Begegnung im Garten der Anlage El Rubí schon ein paarmal gesehen haben musste. Doch da war ich ihm noch nicht aufgefallen, da hatte ich ihn nicht angeschaut und er hatte mir nicht in die Augen geblickt. Da war er mir noch nicht nahe genug gekommen, um mich überall wiederzuerkennen.
    Er begann sich zu fragen, was mich aus dem Gros der anderen Mädchen hervorhob, die zu Hunderten über die Wege schlenderten, auf den Wiesen lagen, in der Mensa saßen. Viele von ihnen hatten auch blaue Augen und blonde Haare. Aber das Blau meiner Augen war anders und die Farbe meiner Haare einmalig. Auch in meinem Verhalten unterschied ich mich nicht von meinen Mitschülerinnen, nur dass er fand, dass mein Verhalten gleichzeitig völlig anders war. Er meinte, eine gewisse Distanz zu den Umtrieben meiner Altersgenossen zu bemerken, als ob mir all das wenig bedeutete, was ihnen normalerweise so wichtig war: Handys, Musiktitel, Einkaufstouren durch die Stadt, Konzertkarten und der Sommerurlaub in der Karibik. Ich sah so aus, als beobachtete ich alles, immer ein wenig verwundert und erstaunt, durchaus wohlwollend und anteilnehmend, aber nicht so, als entschiede sich auf dem Campus mein Lebensglück. Wie eine Außenseiterin war ich ihm also vorgekommen, und da hatte er sich mir verwandt gefühlt in diesem staunenden und beobachtenden inneren Abstand zur privilegierten Welt des Colegio Bogotano, in der er vom Abiturienten zum Praktikanten abgestiegen war.
    Zwar war es ein Praktikum, das ihm die Rektorin Claudia Aldana persönlich verschafft hatte, ein Lernen für höhere Aufgaben, aber die meisten Schülerinnen und Schüler, die ihn noch als Absolventen kannten, waren bald weg, und der Rest sah ihn nicht mehr als Damián Dagua, sondern als irgendeinen Pepe, einen Angestellten der Schule mit dunkler Hautfarbe, an den man zuerst dachte, wenn irgendwas geklaut wurde.
    Ich spürte, wie seine Bauchdecke sich unter meiner Hand in einem stummen Seufzer hob. Er blickte zu mir herüber.
    »Und dann standest du plötzlich im Computerraum, wo ich saß.«
    Doch in meiner Miene hatte damals nicht nur Erstaunen gelegen, sondern auch Misstrauen und Zweifel. Was machte der hier? Einer, der sich mit diversen Jobs über Wasser hielt und, wenn es niemand mitkriegte, seinen Affen auf Diebestour schickte? Abscheu und Verachtung hatte er zu erkennen gemeint und plötzlich war Ärger in ihm aufgestiegen. Er hätte mir gern ins Gesicht gesagt: »Guck nicht so! Ich bin keiner eurer Dienstleute, die euren Dreck wegmachen, ich bin Student!«
    Aber das hätte er vor den anderen Schülerinnen und Schülern unmöglich sagen können. Außerdem hatte mein Anblick ihn zum zweiten Mal getroffen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. So viele Gedanken und Gefühle waren gleichzeitig durch seinen Kopf geschossen, dass er kapituliert und sein Heil in der Flucht gesucht hatte.
    Am liebsten wäre er noch viel weiter fortgelaufen als nur ins Büro des Hausmeisters und abends ins Haus seiner Großmutter. Er hatte sich seines Ärgers geschämt, es hatte ihn bedrückt, dass er in Versuchung gewesen war, mir gegenüber mit seinen Projekten, seiner Zukunft aufzutrumpfen. Denn das bedeutete, dass er sich mir sozial unterlegen gefühlt hatte, dass es ihm nicht egal gewesen war, was ich über ihn dachte.
    Die Liebe kam ihm ungelegen. Für ihn war immer klar gewesen, dass er irgendwann ein Mädchen aus seinem Volk heiraten würde. Vage hatte er dabei an Rocío aus dem Büro des CRIC gedacht, an eine, die Schulbildung besaß und politisch aktiv war, die das Leben in der Stadt kannte. Er war sogar ein paarmal mit ihr ausgegangen, bis sie ihm gestanden

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