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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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hatte, dass sie bereits einen Freund hatte. Genauso gut hätte er sich in ein Mädchen aus den Bergen verlieben können, das weder mit Computern noch mit dem Leben in der Stadt vertraut war. Er hätte eine gefunden, die, auch wenn sie nicht seine Schulbildung besaß, klug genug gewesen wäre, seinen Weg mitzugehen, so eine wie seine Schwester Clara. Aber eine Weiße, eine Deutsche, das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.
    Er hatte durchaus auch früher schon weiße Frauen gekannt – Susanne Schuster zum Beispiel –, die das einfache Leben in den Bergen schätzten. Sie waren aus ihren Lebensumständen geflüchtet, vielleicht weil sie dort nicht glücklich geworden waren und nun glaubten, das einfache Leben sei einfacher, das Kochen am offenen Feuer, das Waschen im Gebirgsbach. Sie verkannten dabei, dass auch das Leben der Leute in den Nebelbergen kompliziert war. Die Regeln des familiären Miteinanders, die sozialen Gesetze waren nicht so einfach zu durchschauen. Die Brutalität der Lebensumstände spiegelte sich in autoritären Familienverhältnissen wider. Das männliche Familienoberhaupt übte eine Gewalt aus, die für Außenstehende nicht akzeptabel war. Und die Macht der Mütter am Herd war für Außenstehende wiederum kaum erkennbar. Susanne Schuster hatte den Fehler gemacht, sich zu schnell als eine von ihnen, den Indios, zu betrachten und sich einzumischen. Deshalb hatten die Alten sie mit Misstrauen betrachtet und schließlich davongejagt.
    »Aber sie ist doch entführt worden«, sagte ich.
    »Erst als sie wieder zurückkam. Aber lassen wir diese unselige Geschichte jetzt mal beiseite.«
    Je weniger Damián von mir hatte wissen wollen, desto mehr hatte er über mich erfahren. In der Schule wurde durchaus anerkennend über mich gesprochen. Er erfuhr, dass ich eine gute Schwimmerin war und alle schulinternen Wettkämpfe gewann. Er hörte, dass meine Freundin Elena und ich mit Elenas Vater die Mine bei Inza besuchen wollten, damit Elena dort ihren ersten Smaragd geschenkt bekommen konnte. Er erfuhr, dass ich auf Elenas Pferden ritt. Das alles missfiel ihm. Ich war doch nur eine von denen, die es schafften, in diesem Land zu leben und die Augen komplett vor seiner Armut und Ungerechtigkeit zu verschließen, eine von denen, deren Hauptsorge momentan das Kleid für den Diplomatenball war, zu dem unsere Väter und damit auch wir selbstverständlich eingeladen worden waren, aber niemals ein Indio wie er, der keinen bedeutenden Vater hatte, sondern gar keinen, weil er nämlich zusammen mit dem ganzen Dorf abgeschlachtet worden war. Und endlich, dachte er, konnte er mich ad acta legen und vergessen.
    Doch dann rief ihn die Rektorin ins Büro und überreichte ihm lächelnd eine Einladung für genau diesen Diplomatenball. Sie bekam stets ein gewisses Kontingent, das sie an verdiente Lehrer und Mitarbeiter der Schule vergab, den Religionslehrer und Pfarrer zum Beispiel, der seit Jahren Schulklassen bewog, Patenschaften für ein paar Familien in den Slums von Bogotá zu übernehmen, und jetzt auch an ihn, Damián, den Hausmeistergehilfen.
    »Da können Sie wichtige Leute kennenlernen und versuchen, sie für Ihre Pläne zu gewinnen«, sagte sie. »Außerdem müssen Sie lernen, sich auf glattem Parkett zu bewegen, wenn Sie wirklich was werden wollen.«
    Damián konnte die Einladung nicht zurückweisen, er fühlte sich der Rektorin zu Dank verpflichtet. Der Respekt, den man ihm, dem Indio, als Schüler im Colegio entgegengebracht hatte, hatte entscheidend dazu beigetragen, sein Selbstbewusstsein zu stärken. In den drei Jahren als Schüler hatte er gelernt, sich das, wovon er träumte, auch wirklich zuzutrauen. Er hatte begriffen, dass es nicht genügte, einer benachteiligten Minderheit anzugehören und revolutionäre Ideen zu vertreten, sondern dass er mitarbeiten musste, um sie auch umzusetzen. Er hatte sich im Schülerparlament engagiert und Erfahrungen gesammelt.
    »Zum Beispiel«, sagte er, »habe ich gelernt, dass es keinen Sinn hat, zu sagen, die Indígenas müssen mehr Rechte haben. Dann nicken alle, aber niemand ist mit dem Herzen dabei. Man muss eine Geschichte erzählen, damit die anderen fremde Beweggründe nachvollziehen und zu ihren eigenen machen können. Seitdem erzähle ich Geschichten. Nur bei dir ...«, er lächelte schief, »... habe ich es nicht zustande gebracht. Dir habe ich, wie das in eurer Kultur üblich ist, nur das Ergebnis meiner Überlegungen präsentiert. Ich habe dir keine

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