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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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losgelöst von mir. Er packte den Waschbeutel, steckte Pass und Papiere ein, packte Wäsche, Regenkleidung, Jeans und Stiefel. Mein Kopf war wie leer gefegt, so als ob er sich weigerte, zu Ende zu denken, was das bedeutete.
    Sonst hätte ich mir sagen müssen, dass ich alles aufgab. Ab morgen würde ich nicht mehr zur Schule gehen. Denn mein Vater würde nach mir suchen und mich in Colegio Bogotano finden. Also würde ich kein Abitur machen. Auch bei Juanita und Clara würde ich höchstens eine Nacht bleiben können. Mein Vater wusste, wo sich das Haus im Wald befand. Er hatte Clara mit mir zusammen dorthin gebracht. Ich würde arbeiten gehen müssen, als Putzfrau in einem großen Kaufhaus oder als Kellnerin. Hätte ich nachgedacht, ich hätte vielleicht Zweifel bekommen, ob Damián mich in seiner Studentenbude aufnehmen konnte oder wollte.
    Ein letztes Mal ging ich durch die Wohnung mit ihren dunklen spanischen Möbeln und den immer kalten Steinböden. Ich vergewisserte mich, dass der Herd abgestellt und die Fenster geschlossen waren. Sollte ich den Schlüssel mitnehmen oder dalassen?, fragte ich mich.
    Und vielleicht sollte ich meinem Vater doch noch einen Brief schreiben.
    Als ich am Tisch saß und nicht wusste, was genau ich schreiben sollte, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, wie ungeheuerlich mein Vorhaben war. Angst packte mich. Warum nur konnte man mit Eltern nie in Ruhe reden? Sie waren immer nur mit sich selbst beschäftigt. Meine Sorgen waren ihnen völlig egal. Ich liebte Damián, er war der einzige Mann, mit dem ich leben wollte, aber das galt ihnen nichts. Sie dachten nur über ihre Liebe nach und wie sie sie wiederbeleben und erhalten konnten.
    »Lieber Papa«, schrieb ich. »Bitte mach dir keine Sorgen um mich. Ich kann nicht mit euch nach Deutschland zurückkehren. Es tut mir leid. Doch es geht nicht. Ich liebe Damián. Ich kann nicht ohne ihn leben. Deshalb gehe ich fort. Aber für mich ist gesorgt. Es wird mir gut gehen. Ich liebe dich. Jasmin.«
    Es war alles gelogen, dachte ich. Jedenfalls stimmte es nicht ganz. Ich wusste nicht, ob für mich gesorgt sein würde. Ich wusste nicht, ob Damián wirklich jetzt schon mit mir leben wollte. Ich wusste nur, ich konnte nicht übermorgen ins Flugzeug steigen und für immer fortgehen, ohne wenigstens einen Versuch unternommen zu haben, mein eigenes Glück zu erringen.
    Ich ließ das Blatt Papier auf dem Esstisch liegen, nahm meine Reisetasche und verließ die Wohnung. Da ich die Tür von außen abschließen musste, nahm ich den Schlüssel mit und warf ihn unten in den Briefkasten.
    Die Abenddämmerung stürzte sich mit tropischer Hast auf die Stadt. Ich verzichtete auf ein Taxi und fuhr ein Stück mit dem Bus. Ab jetzt würde ich mein Geld zusammenhalten müssen. Viel war es nicht, was ich besaß. Mit der schweren Reisetasche über der Schulter marschierte ich die mir so vertraute Calle 110 entlang. Es war stockfinster, als ich das blaue Tor mit den indianischen Pfosten erreichte. Erst gestern war ich an der Hand von Damián den Pfad herabgegangen. Er hatte die Pfützen und Bohlen im Schlamm mit der Taschenlampe beleuchtet. Jetzt lag er in völliger Dunkelheit. Die Bäume standen so dicht, dass auch das Mondlicht nicht bis auf den Boden drang. Ich tastete mich förmlich den Weg hinauf. Immer wieder trat ich neben die Bretter in Pfützen. Meine Sneakers waren bald bis auf die Socken nass. Der finstere Weg wollte nicht enden.
    Und etwas stimmte nicht. Ich hörte nichts. Es war zu still. Juanitas Hündchen bellte schon lange nicht mehr, wenn es mich kommen hörte, aber die Ziege meckerte immer. Außerdem fehlte jeglicher Funke von Licht, der mir Orientierung gegeben hätte. Ich stand urplötzlich vor dem Haus. Beinahe wäre ich gegen die Wand gerannt.
    Ich tastete nach der Tür. Sie war unverschlossen, wie immer. Im Haus roch es nach kaltem Feuer. Ich fand Streichhölzer an der Stelle, wo sie immer lagen, und entzündete die Petroleumlampe. Im flackernden Licht der Ölfunzel kam mir der Raum groß und fremd vor. Dann erkannte ich, was anders war. Auf dem Herd stand kein Topf, die Regalbretter an den Wänden waren leer, die bunten Decken auf Juanitas und Claras Bettstatt fehlten. Die Matratzen waren nackt. Das Haus war verlassen und leer. Juanita und Clara waren fort.
    Auf dem Tisch, an dem Clara und ich so viele Nachmittage gesessen hatten und unseren Studien nachgegangen waren, leuchtete etwas im Schein der Lampe weiß auf. Es war die Kugel aus Kautschuk an

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