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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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der Kordel aus Pflanzenfasern, die Damián Clara in Yat Wala gegeben hatte, damit sie wusste, wie sie ihn erreichen konnte. Die Zeichen, die ein Daumennagel hineingedrückt hatte, waren andere und überdeckten Damiáns E-Mail-Adresse.
    Unter der Kugel lag ein beschriebener Zettel. Ich erkannte Claras ordentliche Handschrift. Der Text war in Nasa Yuwe verfasst. Er lautete: »Behalte das als Erinnerung an mich und Damián. Juanita hat es mit einem Glückszauber versehen. Such uns nicht! Wir sind in Sicherheit. Leb wohl.«
    Ich begriff gar nichts. Warum waren sie fort, warum so plötzlich? Gestern hatte nichts danach ausgesehen. Waren sie geflohen? Der Text wirkte wie eine Botschaft in Geheimsprache, die ein Fremder, der zufällig ins Haus kam, nicht verstehen würde, auch die Polizei nicht. Wer konnte schon Nasa Yuwe ? Und so las ich ihn immer wieder, in der Hoffnung, die geheime Botschaft hinter dieser Nachricht zu entdecken, den Hinweis, wo Clara und Juanita denn nun steckten. Aber ich fand die Antwort nicht.
    Mein erster Gedanke war, dass sie nach Yat Pacyte zurückgekehrt waren, aber dann sagte ich mir, dass sie genau dort auf keinen Fall hingegangen sein konnten. Sie waren geflohen, vor der Polizei, vor dem Militär, vor Tano oder den Killern der FARC. Hatten sie es gestern schon gewusst? Oder hatten sie es heute erst entschieden, weil sie nicht wussten, was ich der Polizei erzählen würde? Oder war etwas ganz anderes geschehen?
    In mir stürzte der ganze Mut der letzten Stunden zu einem Häuflein Asche zusammen. Wo sollte ich nun hin?
    Mein Blick fiel wieder auf die Kautschukkugel. Ich nahm sie hoch. Über Damiáns E-Mail-Zeichen war eine dreieckige Maske geritzt, die mit schwarzer und roter Farbe eingefärbt worden war. Auf der anderen Seite befand sich eine zusammengekrümmte Figur, die mich an den Lamaembryo von der Zeremonie gestern erinnerte. Das Zeichen der Unschuld, mit der jeder Mensch ins Leben trat. In manchen Gegenden in Bolivien wurden bis heute gedörrte Embryos in die Grundmauern eines Hauses eingebaut, zum Schutz und Segen. Aber was bedeutete das mir? Niemals hatte ich mich dem Kulturkreis Damiáns fremder gefühlt als in diesem Moment.
    Was für ein schäbiger Witz war das hier angesichts der Situation, in der ich mich befand! Ich hatte mein Zuhause verlassen, um mit Damián und seinen Leuten zu leben. Ich hatte mich entschieden und alles aufgegeben, was bisher mein Leben ausgemacht hatte. Und wo waren sie? Weg. Fort. Ohne mir mehr zu hinterlassen als ein »Leb wohl!«, »Such uns nicht!« und eine Kugel aus Kautschuk an einem Naturfaserband.
    Wütend ballte ich die Faust um die Kugel! Sie fühlte sich warm an. Sehr warm. Wie eine Stichflamme schoss mir die Hitze den Arm hinauf und strömte in meinen Körper. Ich wollte die Kugel fallen lassen, aber meine Hand schien mir nicht gehorchen zu wollen. Erst fühlte ich mich wie gelähmt, dann erkannte ich, dass sich totale Ruhe in mir ausbreitete. Es wurde ganz klar in meinem Kopf.
    Ich sah meine Zukunft. Ich sah meinen Weg. Er war undeutlich und verschwommen. Ich sah sein Ende noch nicht, aber ich wusste, ich hatte nur diesen einen Weg. Und die Nebelberge des Cauca lagen nicht an der Strecke. Aber das war nicht schlimm. Denn ich sah mich – ganz in der Ferne – an der Seite eines Mannes, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte. Es waren viele Menschen um uns herum, sie schrien, sie jubelten. Und ich war keine Ärztin, ich war eine Art Sprecherin. Ich übersetzte, was der Mann an meiner Seite sagte. Was das alles bedeutete, war mir nicht klar, aber es war unausweichlich, es war vorgezeichnet, es war mein Wille. Ich, Jasmin Auweiler aus Konstanz, hatte diesen Weg vor mir, bevor ich dort ankam, wo ich geliebt werden würde, aber ich würde es schaffen. Es war keine Vision von »Alles wird gut«, es war eher eine kalte Gewissheit, dass etwas in mir steckte, was genauer als mein Verstand wusste, wofür ich geboren worden war, zur Schule gegangen sein und studiert haben würde.
    Hätte ich das nicht so sicher gewusst, ich hätte wohl die nächsten Tage nicht überlebt.
    Ich band mir die Kautschukkugel um den Hals. Sie lag warm und glatt in der Halskuhle zwischen den Schlüsselbeinen. Dann nahm ich meine Reisetasche und die Öllampe und verließ für immer das Haus im Wald. Zum letzten Mal ging ich den matschigen Waldweg hinunter. Am Torpfosten löschte ich die Öllampe und ließ sie zurück.
    So sah das also aus, wenn Jasmin Auweiler beschloss,

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