Der Ruf des Kolibris
Gedanken zu machen, ob das Serviermädchen, das durch den Rippenstoß der Tochter eines Bankers ins Straucheln gekommen war und mir die Getränke übers Kleid geschüttet hatte, wirklich entlassen wurde. Es konnte doch nichts dafür. Und ich hatte mich über einen albernen Fleck fürchterlich aufgeregt und dabei nur an mich gedacht.
Hatte man sie schon weggeschickt, fragte ich mich, oder ließ man sie heute noch zu Ende arbeiten, als Tellerwäscherin in der Küche zum Beispiel? Dann hatte ich vielleicht noch eine Chance, alles richtigzustellen. Am liebsten wäre ich sofort aufgestanden und hätte den Chefkellner gesucht. Aber der hatte jetzt vermutlich auch anderes zu tun, als sich mit mir und meiner Bitte zu beschäftigen. Die Teller des Hauptgangs wurden abgetragen. Der Yorkshirepudding, ein eigentlich luftiges Gebilde, wie mein Vater mir erklärte, hatte die Konsistenz von Kautschuk mit Leim gehabt. Nachdem endlich auch der Nachtisch aufgetragen worden war, Pfefferminzeis – nicht essbar! – und Obstsalat, Nüsse und Flan, wurde es unruhiger in dem großen Saal. Die ersten begannen aufzustehen.
Endlich!
Elena passte mich auf dem Weg in Richtung der Türen ab, aus denen die Kellner kamen. Ich erklärte ihr, was ich vorhatte. Sie meinte, das müsste ich nicht tun, auch in Kolumbien gebe es Gewerkschaften, aber sie schloss sich mir an. Wir traten an die Türen heran, durch die wie die Bienen die Kellner ein- und ausschwärmten. Ich fragte eine Kellnerin, die gerade zurückkam, ob wir mal kurz den Chef oder den Geschäftsführer oder den Verantwortlichen sprechen könnten. Nach einer Weile erschien ein verschwitzter Mann. Er war zwei Köpfe kleiner als ich, was ihm sichtlich missfiel. Als er jedoch merkte, dass wir uns nicht beschweren wollten, wurde er freundlich, fast ein bisschen zu freundlich, machte uns Komplimente und bestritt mit großer Geste, dass die Kellnerin Konsequenzen befürchten müsse. Ich hatte den Eindruck, dass er das Blaue vom Himmel runterlog.
Ich fragte, ob ich die Kellnerin mal sprechen könnte.
Das brachte ihn ins Schlingern. Es sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, lavierte er, es gebe viel zu tun. Ob ich in einer Stunde noch mal wiederkommen könnte.
»Wie heißt sie denn?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete er. »Es sind fünfzig Leute. Und viele sind nur für heute eingestellt.«
»Mein Kleid ist wieder sauber«, erklärte ich mit Nachdruck. »Sehen Sie. Es ist überhaupt nichts passiert. Die Kellnerin kann nichts dafür. Ich möchte nicht, dass sie meinetwegen Nachteile hat. Dann könnte ich nicht mehr ruhig schlafen.«
»Regen Sie sich nicht auf!«, sagte er. »Natürlich möchte ich nicht, dass Sie nicht ruhig schlafen können. Kommen Sie in einer Stunde wieder oder in zwei. Und jetzt bitte ich um Entschuldigung. Ich habe zu tun.«
»Na, immerhin haben wir es versucht«, bemerkte Elena.
»Aber das reicht nicht!«, schnaubte ich. »Versuchen reicht nicht. Ich werde in einer Stunde hier noch mal nachfragen. Und wehe, wenn sie dann nicht da ist!«
»Was dann?«
»Dann mache ich einen Riesenaufstand.«
»Dickschädel!«, lachte Elena. So nannte sie mich immer, wenn sie meinte, ich verhielte mich typisch deutsch. Sie wollte in den Tanzsaal. Es gab auch eine Bar, die sich langsam füllte, ein englisches Klubzimmer, in dem der Zigarrenqualm in Schwaden unter der Decke hing, und einen Tearoom, wo Damen mit Hüten in feinen Porzellantassen rührten.
Der Botschafter und seine Frau eröffneten den Tanz mit einem Walzer.
Wenn ich behaupten wollte, ich hätte nicht die ganze Zeit nach einer breitschultrigen Gestalt mit pechschwarzem Haar Ausschau gehalten, hätte ich gelogen. Einmal meinte ich, Damián ganz hinten in einer Ecke gesehen zu haben, kurz bevor sich die Menge zwischen ihm und mir schloss, aber als ich wieder freien Blick hatte, war er nicht mehr dort. Du spinnst!, sagte ich mir. Was willst du denn von ihm? Das kann nichts werden. Definitiv nicht. Er interessiert sich doch auch überhaupt nicht für dich, sonst hätte er dich jetzt schon gefunden und zum Tanzen aufgefordert.
Enttäuschung sickerte mir in die Glieder. Ich spürte sie wirklich körperlich. Sie lähmte meine Beine und Hände und meine Seele. Es fiel mir schwer, mich auf den Beinen zu halten. Der Ball kam mir auf einmal unendlich öde vor. Was machten wir hier eigentlich? Ich dachte, ich müsste sterben, wenn ich jetzt nicht sofort ging. Aber Elena hätte das nicht verstanden. Und meine Eltern auch
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