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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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nicht. »Bist du krank?«, hätte meine Mutter gefragt und ihr sorgenvolles Gesicht aufgelegt, mit dem sie an Wärmflaschen dachte und an mein Lieblingsessen, das sie mir kochen würde. Ich hasste das. Ich war kein kleines Kind mehr, das sich vom Papa vertrauensvoll den Puls fühlen ließ und sich danach schon viel besser fühlte. Dabei war es ihm eigentlich immer ein bisschen peinlich, wenn er mich als Arzt untersuchen musste. Aber Mama bestand darauf: »Wenn wir schon einen Arzt in der Familie haben!«
    Ich versuchte, die innere Lähmung abzuschütteln. Zum Glück merkte Elena nichts, ein bisschen beschwipst, wie sie bereits war. Außerdem hatte sich inzwischen John Green zu uns gesellt. Weil ich ziemlich wortkarg war, beschäftigte er sich notgedrungen intensiver mit Elena. Und dann kam es, wie es kommen musste: Es war Elena, nicht ich, die er auf die Tanzfläche führte. Es war wie daheim mit Vanessa. So war es immer. Ich war schlecht gelaunt, mein Kleid hatte einen Fleck und deshalb wandten sich die Jungs meinen Freundinnen zu. Es lag an mir, ich wusste es. Ich musste heiterer und unbeschwerter sein, mehr lächeln, plappern, lachen und all das. Aber ich war eben nicht so eine, die auf Knopfdruck fröhlich war und mit einem Jungen flirtete, der sich die Ehre gab, sich für mich zu interessieren. »Na, lassen sie dich wieder stehen?«, fiel mich von schräg hinten eine Stimme an. Es war Felicity Melroy, die Dame in Grau. Wegen der lauten Musik musste sie sich meinem Ohr nähern und ziemlich schreien. Ich roch ihr Parfüm.
    »Ich habe keine Lust zu tanzen«, erwiderte ich.
    »Oh!«, lachte sie. »Schlechte Laune. Ist dein Schätzchen nicht da? Hat er dich versetzt? Komm mal mit, Kindchen. Wir geben die vornehmen Damen und gehen Tee trinken.«
    Ich winkte Elena zu und bedeutete ihr mit Gesten, dass ich nach nebenan ging, aber ich war nicht sicher, ob sie mich verstand. Egal. Mrs Melroy führte mich in den Tearoom, in dem in erstaunlicher Stille ein Dutzend alte Damen leise miteinander redeten. Wir fanden ein Plätzchen in einer Ecke. Felicity bestellte zwei Earl Grey. »Der macht munter«, befand sie. »So, und nun erzähl mal. Was ist los?«
    Ich hatte eigentlich keine Lust, etwas zu erzählen. Wie hätte ich meinen Zustand auch in Worte fassen sollen? Mrs Melroy hätte nur gedacht, dass ich in diesen Damián verliebt sei. Aber das war ich nicht. Mein Problem war, dachte ich, dass ich nicht wusste, ob er gefährlich war. Er hatte dem armen Kellner gedroht, dessen Mutter und Schwestern zu töten. So einer war Hausmeistergehilfe in meiner Schule. Und ich wusste verdammt noch mal einfach nicht, was ich tun musste. War er ein Spion der FARC, ein Untergrundkämpfer, der einen Anschlag in Bogotá vorbereitete oder eine Entführung? Hatte er sich im Smoking hier eingeschlichen, um irgendwas zu tun oder auszukundschaften? Immerhin hatte Präsident Uribe ursprünglich sein Kommen angekündigt. Und nun war Damián verschwunden, gegangen, weil statt des Präsidenten die Kommunikationsministerin gekommen war und das, was er vorgehabt hatte, nun nicht mehr stattfinden konnte. Vielleicht war der Kellner sein Komplize gewesen und er hatte sich mit ihm gestritten, weil etwas schiefgegangen war oder die Informationen nicht gestimmt hatten.
    »Ich bin gegen meinen Willen in Kolumbien«, sagte ich, damit Mrs Melroy etwas zu hören bekam. »Ich wollte nicht. Aber meine Eltern haben es einfach beschlossen, und weil ich erst sechzehn bin, musste ich mit. Punktum. Dabei hätte meine Tante Valentina mich so lange genommen.«
    »Und nun grollst du deinen Eltern immer noch? Du Dummerchen.«
    Wir sprachen Spanisch und sie duzte mich konsequent. Aber ich brachte es nicht fertig, sie auch zu duzen. Obwohl es mich ärgerte. Und es ärgerte mich auch, dass sie mich Dummerchen nannte. Mich ärgerte eigentlich alles an ihr, aber sie faszinierte mich auch, ohne dass ich mir erklären konnte, warum.
    »Ihr jungen Mädchen«, sagte sie, »meint immer, ihr wüsstet genau, was gut für euch ist. Und eure Eltern hätten keine Ahnung davon. Sie dächten nur an sich selbst. Aber das ist ein Irrtum! Deine Eltern denken permanent an dich. Sie zerbrechen sich den Kopf über dich. Sie machen sich ununterbrochen Sorgen, ob auch alles richtig läuft. Denn du hast keine Ahnung, was wirklich gut für dich ist. Dazu fehlt dir die Lebenserfahrung, glaub mir. Jaja, du bist intelligent und klug und all das. Mit sechzehn ist man im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte,

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