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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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intelligenter wird man nicht, aber deine Gefühle, die befinden sich noch im Chaos. Die sind noch nicht richtig justiert. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, so ist das. Du verstehst dich selbst oft am wenigsten.«
    Ich nickte unwillkürlich.
    »Ich sage dir, dagegen kann man nichts machen. Nur abwarten. Deshalb, glaub mir, ist es gut, wenn du auf uns Erwachsene hörst. Hast du einen Freund?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Wirklich nicht? Hast du keinen in Deutschland zurückgelassen, den du ein bisschen magst?«
    Ich musste lachen. »Das schon. Aber ... na ja ...«
    »Er ist in eine andere verliebt.«
    Ich nickte. »Aber ich war nie in ihn verliebt. Nicht wirklich.«
    »Dann ist es ja gut. Und wo ist jetzt das Problem?«
    »Es gibt kein Problem.«
    Felicity Melroy lachte. »Ich stelle zu viele indiskrete Fragen, ich weiß, das ist weder britisch noch spanisch. Aber sehr deutsch. Aber natürlich musst du mir nicht erzählen, was du auf dem Herzen hast, Kindchen. Worüber wollen wir dann reden. Übers Wetter?«
    »Das ist wirklich grauenhaft«, stöhnte ich. »Immer muss man Regenjacken mitnehmen. Übrigens ...« Endlich fiel mir etwas ein, was ich für einigermaßen ungefährlich hielt. »... war ich kürzlich mal spazieren und bin auf eine Hütte gestoßen. Die Hütte ist nicht das Besondere, aber die Pfosten unten am Törchen. Sie sind bemalt mit seltsamen Gesichtern.«
    »Was für Gesichter?«
    »Relativ geometrisch, in Dreiecken und Quadraten.«
    »Dann weiß ich, welches Haus du meinst. Es steht sogar in irgendeinem Reiseführer. Das sind Figuren aus Tierradentro.«
    »Was?«
    Auf Deutsch übersetzt hieß Tierradentro so etwas wie »in der Erde«.
    »Das ist eine geheimnisvolle Grabstätte in den Zentralanden«, erklärte Felicity Melroy. »Sie gehört dem indigenen Volk der Páez. Sie selbst nennen sich Nasa. Es sind die einzigen unterirdischen Gräber, die man hier bislang gefunden hat. Katakomben. Sie sind ausgemalt. Es lohnt sich, da mal hinzufahren. Die Hütte hier in Bogotá gehört einer Medizinfrau der Páez, einer weisen Frau. Sie ist ein wandelndes Buch, sage ich immer. Was sie alles weiß. Viel mehr, als man ihr zutrauen würde. Man sagt, ihr Dorf habe sie ausgestoßen, weil sie zu klug ist. Bei den Páez haben die alten Männer das Sagen, nicht die Frauen. Ich kenne übrigens Leute, die zu ihr gegangen sind und geheilt wurden. Sie kennt sich mit Kräutern und Naturheilmethoden aus, aber sie hat auch geheimnisvolle Kräfte. Man erzählt sich da die erstaunlichsten Dinge. Aber hier erzählt man immer gern von magischen Ereignissen. Alles ist Magie. Die Kolumbianer glauben an Zauberei. Und auf uns Europäer wirkt das besonders, sage ich immer, weil wir es nicht gewohnt sind.«
    »Wie?«
    Sie lachte. »Du bist doch auch schon ganz blass geworden, Jasmin. Es ist dir unheimlich.«
    »Es ist doch auch unheimlich!«
    »Ja, aber nur, weil du nicht gewohnt bist, so zu denken. Die Indios hier glauben an Geister, sie glauben, dass die Wälder den Kobolden gehören, sie glauben, dass man seine Seele verlieren kann, wenn man sich erschreckt, und solche Dinge. Sie leiden körperlich darunter, sie leiden an Depressionen und Blutarmut, und nur ein Medizinmann kann ihre Seele zurückholen, wenn er sie an den Ort des Schreckens zurückführt. Wir Europäer würden das vielleicht Psychoanalyse nennen oder Traumabehandlung. Dann ist es gleich viel weniger unheimlich, nicht wahr? Es sind ganz normale Vorgänge für die Leute hier, alltägliche Wunder. Sie haben keine Angst davor. Es ist normal, dass sich unerklärliche Dinge ereignen. Nur wir suchen immer nach Erklärungen. Und was wir nicht logisch erfassen können, macht uns Angst. Aber du musst keine Angst haben. Es gibt keinen Schadenszauber, es sei denn, man glaubt daran.«
    Ich nickte. »Und was ist mit den Páez oder Nasas? Wer sind die?«
    »Es gibt von ihnen schätzungsweise noch 100.000. Sie sind ein sehr friedliches Volk, heißt es. Sie weigern sich seit vierzig Jahren erfolgreich, an den kriegerischen Auseinandersetzungen in Kolumbien teilzunehmen. Sie bauen Koka an und halten Schafe. Die Frauen färben Schafwolle und stricken. Mehr weiß ich nicht. Aber wenn es dich interessiert, dann stelle ich dich unserem Professor Torres y Torres vor. Er ist Anthropologe und erforscht seit Langem die indigenen Völker. Irgendwo habe ich ihn heute Abend schon gesehen.«
    Sie machte Anstalten aufzustehen. Da klingelte mein Handy. Es war Elena, die mich

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